Meine Arbeit als Homöopath ist dadurch gekennzeichnet, dass ich in chronischen Krankheitsfällen eindeutig den mineralischen Arzneien den Vorrang gebe, wobei alle anderen Schätze unserer Materia medica ergänzend zum Gelingen der Kur beitragen dürfen. Aber nicht die bekannten Polychreste wie Calcium carbonicum, Arsenicum album, Phosphor, Sulfur etc. sind meine Favoriten, sondern die aus ihnen zusammengesetzten Salze wie Calcium phosphoricum, Natrium sulfuricum und viele andere mehr. Mit dieser Arbeitsweise greife ich auf den Entwicklungsstand der Homöopathen einiger Generationen vor uns zurück wie etwa Constantin Hering (1800-1880) oder James Tayler Kent (1849-1916).
Diese Salze, von denen ich mir sehr viele in den vergangenen Jahren zu Nutzen machen konnte, sind in der Gegenwart wenig gebräuchlich und in den Arzneimittellehren und Repertorien unzureichend vertreten. Ihre Wahl treffe ich meist einfach durch Zusammensetzen ihrer einzelnen Komponenten und auf der Basis miasmatischer Überlegungen. Eigenständige spezifische Charakteristika haben sie meist nicht oder sind uns bis heute noch zu wenig bekannt geworden, auch wenn einige Homöopathie-Schulen sich mit ihnen befassen und versuchen, sie mit bestimmten Persönlichkeitsportraits zu unterlegen. Rajan Sankaran, Jan Scholten oder Wolfgang Springer beispielsweise haben Anstrengungen unternommen, bestimmte Wesensmerkmale herauszuarbeiten vor allem in Gestalt psychologischer Elemente.
Diese Charakterisierungen erscheinen mir allerdings zu fragil und zu sehr interpretationsabhängig, als dass ich sie einer soliden Arzneimittelwahl zugrunde legen wollte. Natrium phosphoricum, eingeführt von Wilhelm Schüßler (1821-1898), ausführlich gewürdigt schon von Calvin B. Knerr (1847-1940), dem Schwiegersohn von Constantin Hering, hat als eines der wenigen doch eine Reihe von Spezifika vorzuweisen, auf die man sich gut stützen kann. So führen die Arzneimittellehren den typischen goldgelben Belag am Zungengrund auf, und es ist angeführt als einziges Mittel im Kent´schen Repertorium bei Schmerzen des rechten Ileosakral-Gelenks. Auch gehört zu seinem Mittelbild die nächtliche Wahnvorstellung, Möbel seien Personen.
Natrium phosphoricum war mir sehr nützlich bei der Behandlung der kleinen Emma, deren Neurodermitis ich schon in “Homöopathie aktuell”, Ausgabe 1/2010, beschrieben habe. Emma hatte nicht nur ein rotes, rauhes, stark juckendes Exanthem am Körper, sondern auch einen Milchschorf mit gelben Krusten, der mir, neben ihrem gewinnenden Wesen und der Neigung zu Harnwegsinfekten, die Entscheidung für Natrium phosphoricum nahe legte. Mit dieser Arznei, ergänzt um Thuja und Medorrhinum, heilte die Neurodermitis langsam aber vollständig binnen zwei Jahren aus.
Im Lauf des Jahres 2011, Emma war nun schon drei Jahre alt, entwickelte sie nicht nur eine Tonsillitis der rechten Seite, die mit Mercurius jodatus flavus rasch heilte. Sie begann auch schlechter zu hören, was einerseits einem nicht von Schmerzen begleiteten Tubenkatarrh und andererseits einer ebenfalls nicht schmerzhaften Entzündung des äußeren Gehörgangs zuzuschreiben war.
Chronische Ohrenprobleme bei Kindern ebenso wie Entzündungen des äußeren Gehörgangs: Hier hat sich mir in den letzten Jahren vor allem Mercurius als sehr nützlich erwiesen, aber auch in diesen Fällen nicht in der Ausgangssubstanz Mercurius solubilis Hahnemanni, sondern in Gestalt zahlreicher Quecksilberverbindungen, die nicht sehr bekannt und verbreitet sind wie etwa Mercurius phosphoricus, Mercurius sulfuricus oder das von mir erst vor wenigen Monaten entdeckte Mercurius chloratus natronatus, das sich bereits in vielen Fällen verschiedenster Erkrankungen als sehr erfolgreich erwiesen hat. Allerdings, das kann ich einschränkend schon an dieser Stelle sagen, sind die Mercurius-typischen Ohrerkrankungen nach meiner bisherigen Beobachtung in der Regel mit bedeutsamen Schmerzen verbunden.
Da Emma auch noch einen Schnupfen mit verkrusteten Nasenlöchern entwickelte, zeitweise ein hyperaktives Verhalten an den Tag legte mit mancherlei aggressiven Tendenzen – all dies weitere Hinweise auf Quecksilber –, zweifelte ich nun daran, ob meine bisherige Strategie mit Natrium phosphoricum in der Behandlung dieses Kindes schon das Optimum war und wechselte über zu Quecksilbersalzen. Sie erhielt Mercurius phosphoricus und später auch Mercurius chloratus natronatus in Ergänzung mit Thuja und Syphilinum, ohne dass sich aber das Gehör wesentlich besserte.
Ich erwog schon die Rückkehr zu Natrium phosphoricum, als Emma im Beginn des Jahres 2012 an Windpocken erkrankte. Die Mutter rief mich an und bat um Rat, was gegen den starken Juckreiz zu tun wäre. Ganz nebenbei erwähnte sie, dass Emma nun plötzlich ein auffallendes Verlangen nach Eiern zeige, und auf meine Frage, in welcher Zubereitung, hörte ich, sie sei ganz gierig nach Spiegeleiern.
In unseren Repertorien findet sich unter der Rubrik “Verlangen nach Spiegeleiern” nur Natrium phosphoricum (angeführt von T.F. Allen; 1837-1902) und Silicea (nachgetragen von G. Vithoulkas; *1932). Damit war die Entscheidung getroffen, ich kehrte zurück zu Natrium phosphoricum und gab es in C 50.000 Korsakoff.
Im Laufe der darauf folgenden Nacht kam der Juckreiz zum Stillstand und wenige Tage später teilte mir ihre Mutter mit, dass Emma wieder hervorragend hören könne.
Kleines Symptom, große Wirkung!
Bamberg März 2012
Veröffentlicht in der Homöopathie aktuell 2/2012