Ich möchte einer künftigen Homöopathen-Generation die Mühe ersparen, so wie ich bis weit in das Rentenalter arbeiten zu müssen, um der Methode die nötige Reife abzuringen. Und so habe ich, immer eingedenk der zahlreichen ungelösten Fälle, viele Schritte getan, um zum Stand meines heutigen Wissens zu gelangen, das mir schöne Heilungen erlaubt bei Leiden, denen ich nach meiner homöopathischen Grundausbildung noch nicht gewachsen war.
Die Standard-Homöopathie, wie sie weiterhin gelehrt wird und natürlich auch Grundlage unserer Arbeit bleibt, reicht aber nicht aus, um das Potenzial der Methode wirklich auszuloten. Die Suche nach besseren Wegen, die Ausbreitung neuer Methoden und das Schwärmen für exotische Mittel zeigen mir, dass alle unsere klassisch arbeitenden Cracks nicht hinreichend zufrieden sind mit ihren Ergebnissen.
Mein Weg führte mich zurück in die Zeit und die Generation Kents, ich verstand, dass keineswegs alle Arzneien unserer Materia medica sich eignen, chronischen Krankheiten gerecht zu werden. Vielmehr sind es die Mittel mineralische Herkunft in erster Linie, die hierzu taugen – eine Erkenntnis, die viele der Alten schon vertreten hatten. Besser kamen mir dann die salzartigen Kombinationen zu Hilfe, wie sie Schüßler eingeführt und Kent ergänzt hat – und nicht nur er, sondern offenbar die ganze Generation seiner Zeit. Anders kann ich es mir nicht erklären, warum etwa Magister Robert Müntz, Chef von Remedia, so ungeheuerlich viele, völlig unbekannte Salze in seinem Angebot hat, Arzneien, über die es keinerlei Wissen gibt; sie müssen aus dieser Zeit stammen.
Eine dieser Arzneien ist Mercurius chloratus natronatus, ein Äquivalent zu dem schon eher bekannten Aurum muriaticum natronatum. Ich stieß zufällig darauf, fand keine Information darüber, auch nicht über seinen Urheber, habe es dann in hohem Maße eingesetzt, bis ich sein Arzneimittelbild und seinen Stellenwert erfasst hatte. Es ist mittlerweile beinahe das einzige von mir gebrauchte Quecksilber-Präparat und steht repräsentativ für den langen Anlauf, den es mich gekostet hat, vor allem die Mittel des syphilitischen Miasmas zu verstehen.
Eine junge Frau, jetzt 27, klagte über Entzündungszustände aller oberflächennahen Schleimhäute – was ich als essentiell für Mercurius betrachte –, in ihrem Falle vor allem Gehörgang, Nasenränder und das äußere Genitale betreffend. Gerade Letzteres bereitete ihr Kummer, weil dadurch ihr Liebesleben sehr beeinträchtigt war. Auch der Darm war betroffen mit Spasmen und Schleim im Stuhl.
Die Arzneien der Syphilinie sind nicht so leicht zu finden und so brauchte ich eine Weile, bis ich mich für Merc-chl-n. entschließen konnte, gegeben in C200 (Remedia). Das war am 30.6.2022. Am 19.7.2022 waren die Schleimhäute beruhigt, sowohl in der Nase, im Ohr, an der Scheide und am Anus. Der Darm meldete sich nicht mehr mit Schmerzen. Allerdings bemerkte sie nun einen Schmerz der linken Schulter mit Ausstrahlung in den linken Arm, ferner eine Schuppenbildung der Kopfhaut. Gemäß meiner dualen Therapie, die für jeden chronischen Fall sowohl ein Natrium- wie ein Kalium-Salz vorsieht [5], gab ich ihr nun Kalium sulfuricum C200, was genau diese neue Symptomatik abdeckte.
Drei Wochen später, am 11.8.2022 war die Schulter wieder schmerzfrei, die Schuppung allerdings noch vorhanden. Jedoch hatten sich die Schleimhäute wieder gemeldet, was zu erwarten war, da die erste Dosis Merc-chl-n. C200 gemäß der Kentschen Skala kaum länger als 5 Wochen wirken konnte. Die junge Frau war beunruhigt über die Rückkehr ihrer Beschwerden, ließ sich aber trösten mit der Aussicht, dass die nun gegebene weitere Gabe des Quecksilbersalzes wieder Ruhe bringen würde. Sie war sehr dankbar über die, vorerst nur vorübergehende Hilfe und fragte besorgt, wie lange ich wohl noch arbeiten würde, damit sie auch später mit dieser Arznei versorgt werden könne. Noch lange, war meine Antwort, denn dieses Wissen kann man nicht einfach mit einem Ruhestand untergehen lassen.
Gleichfalls in dieser Zeit wurde ich zu einer Katze um Rat gefragt (was immer mal so nebenbei in meiner Sprechstunde vorkommt): sie leide unter einem Katzenschnupfen. Dies ist ein weit verbreitetes Übel und alle meine Katzen fielen ihm zum Opfer; ich hatte damals noch keine Lösung gefunden. Diese Krankheit ist dem menschlichen AIDS zu vergleichen und macht sich ebenso Quecksilber-typisch mit dem Befall der Schleimhäute bemerkbar. Die betroffenen Katzen haben eine schwere Gingivitis mit Speichelfluss, auch die Ohren laufen, und nicht selten ist auch eine chronische Diarrhoe im Spiel. Der Tierarzt habe eine Spritzenkur angeboten, Kosten 2000 €. Eine Gabe Mercurius chloratus natronatus C200 und 3 Wochen später Syphilinum C200 und der Katze ging es besser als je zuvor: Kosten 0,03 Cent (geschätzt).
Dann kam die Entdeckung von Kalium jodatum, das sich als eine grandiose Arznei erwies bei neuralgischen Schmerzen, Schilddrüsenüberfunktion, Drüsenerkrankungen bis hin zu Krebs, Herzrhythmusstörungen und vieles andere mehr, für das ich zunächst noch keine Heilung gefunden hatte. Nicht, dass man diese Arznei nicht kannte, das fleißige Studium vom Boericke [1] ließ keinen Zweifel daran, dass es sich um ein wirksames Antisyphilitikum handelt, aber eine Arznei nur zu kennen ist etwas anderes als sie verstanden zu haben.
In nicht geringem Umfang erwartet man von mir auch Hilfe durch die Behandlung von Kindern mit Entwicklungsstörungen und Verhaltensauffälligkeiten. Da diese jungen Menschen noch kaum die Fähigkeit zur Selbstreflexion haben und somit einer Verhaltenstherapie nicht leicht zugänglich sind, ruht die Hoffnung darauf, sie mit Globuli zur psychischen und sozialen Normalität zu bringen. Es funktioniert, ist aber nicht einfach und braucht Geduld und Zeit. So betreue ich einen Jungen, jetzt 8 Jahre alt, mit einerseits massiven Ängsten, andererseits heftigsten, gewalttätigen Impulsen. Seine genetische Belastung ist nicht gering, seine Mutter hat eine schwere Angststörung und sein Vater (getrennt lebend) ist Alkoholiker.
Seine Ängste äußern sich z.B. abends beim Einschlafen; dann geht ihm allerhand Sorgenvolles durch den Kopf. Und wenn er seine Ausbrüche hat, dann ist keine Sache und keine Person vor ihm sicher; er kann dann auch seinen Hund rücksichtslos quälen. Eine Keynote ist das Erwachen um 5 Uhr. Mit Natrium phosphoricum einerseits, ergänzt durch Tuberculinum, und Kalium jodatum andererseits, ergänzt durch Syphilinum, gelingt es immer wieder, für wochenlange Ruhephasen zu sorgen. Allerdings braucht es wohl noch eine gewisse Zeit, um die Problematik ganz zu bereinigen, denn sobald die Mittelwirkung nachlässt, kommt es zu Rückfällen, die allerdings an Schärfe nach und nach verlieren.
So wie ich mir Kalium jodatum erschlossen habe, ging es mir auch mit Kalium bichromicum. Auch diese Arznei hatte man als eines der ersten Mittel kennengelernt und geschätzt für eine akute Sinusitis mit zähem Sekret und punktförmigen Schmerzen über den Nervenaustrittsstellen; aber das war es dann auch. Im Spätherbst 2021 erkrankte ich an COVID-19 und entwickelte eine heftige Verschleimung der Bronchien. Große, blutige Klumpen musste ich aushusten und in meiner Nase bildeten sich massive Borken. Kalium bichromicum C200 bereinigten diesen Zustand binnen 2 Tagen, aber ich lernte daraus, dass diese Arznei für mich eine viel weiter reichende Bedeutung hat. Ich begriff, dass dessen Keynotes für mich mehr zutrafen, als ich bisher verstanden hatte: eine chronische, subakute Sinusitis, eine Neigung zu Zwölffingerdarm-Geschwüren, ein chronisches Ulkus am Ohrmuschelrand – „wie ausgestanzt“ – und gelegentlich ischialgiforme Schmerzen nachts.
Corona hat die Eigenschaft – die Impfung ebenso –, in einem Menschen latente, ungelöste Krankheiten wachzurufen; es ist vielleicht die akute, massive Untergrabung der Lebenskraft, die dieser Infektion zu eigen ist und die Betroffenen auf ihre Schwachstellen zurückwirft. Und so verstand ich, dass ich selbst mit Kali-bi. weiter kommen würde als ich es mit Kalium jodatum erlebt hatte, das mir auch schon großen Gewinn gebracht hatte – nicht nur meiner eigenen Genesung, sondern auch der vieler meiner Patienten. Es ist mir ein Anliegen, mich bei diesem Arzneimittel dafür zu entschuldigen, dass ich ihm bisher die angebrachte Würdigung vorenthalten habe. JH Clarke spricht von „einem der wichtigsten Mitglieder der homöopathischen Materia medica“! [2]
Seither bemühe ich mich, die Unterscheidung dieser beiden Kali-Salze zu erfassen. Sie sind sehr nahe verwandt und gemeinsam ist ihnen einerseits die Zugehörigkeit zum Krebsmiasma, als dessen Repräsentanten ich die Kali-Salze sehe, andererseits auch die Zugehörigkeit zur Syphilinie, deren Mittel für mich alle Metalle sind ebenso wie die Halogene. Somit sind sie also geeignet, tiefste Pathologien zu erreichen.
Farrington (1847 - 1885), ein Schüler Constantin Herings, hat schon diese Mittel gegenübergestellt in seiner Vergleichenden Arzneimittellehre [3]. Gemeinsam ist ihnen auch die Neigung zu neuralgischen Schmerzen und die Erkrankung von Drüsen. Ein Unterschied liegt in der Verschlimmerungszeit, die bei Kalium jodatum 5 Uhr ist und bei Kalium bichromicum 2 Uhr. Die Hyperthyreose und die tumultuösen Herzaktionen (z.B. die absolute Tachyarrhythmie) sprechen mehr für Kali-i., die chronischen Probleme mit den Nasennebenhöhlen, vor allem der zähe, fadenziehende Schleim für Kali-bi., wohingegen Kali- i. heftige Niesattacken und einen reichlichen, wundmachenden Fließschnupfen kennt. Dem Kali-bi. schreibt man wandernde, punktförmige rheumatische Schmerzen zu, während das Jodsalz sich durch ungebremste Stimmungsimpulse auszeichnet; ich habe es übrigens mehrmals bei kindlichen Tics erfolgreich eingesetzt (auch in oben geschildertem Fall).
Auch hierzu ein Fall: Herrn R.R., jetzt 83 Jahre alt, betreue ich seit 22 Jahren. Neben einer Pollenallergie, einem rezidivierenden Lumbalsyndrom und Phasen von Blasenentleerungsstörungen ist sein größtes Problem ein Roemheld-Syndrom. Eine massive Gasbildung im Oberbauch-Magen-Bereich bereitet ihm immer wieder ein heftiges Ausstoßen, vor allem aber ein intermittierendes Vorhofflimmern, und versetzt ihn damit häufig in einen elenden Zustand. In enger Zusammenarbeit mit Kardiologen und Gastroenterologen versuchen wir dem Problem Herr zu werden, aber es wurde im Gegenteil in den letzten Monaten immer schlimmer.
Carbo vegetabilis half nicht viel, die Pollinose hingegen ist zu beherrschen mit Natrium sulfuricum. Aber die Erwartung, dass diese Arznei ihm helfen würde, sie, die mit ihrem Bezug zur Leber das Hauptmittel bei einer Verdauungsinsuffizienz mit Gasbildung ist, erfüllte sich nicht. Zuletzt beruhte die Hoffnung auf Linderung auf der Behandlung einer mittlerweile erkannten Hiatushernie, aber der Versuch, diese endoskopisch zu reponieren, löste eine Thrombose mit Lungenembolie aus.
So standen wir also wieder mit leeren Händen da, und ich bestellte ihn Woche für Woche weiterhin ein, um neue Lösungswege zu gehen. Bis mir Kalium bichromicum in den Sinn kam, für dessen Indikation er keinerlei Symptomatik aufwies außer einer vor längerer Zeit notierten Verschlimmerung durch Bier.
Mein Aufsatz aus jüngerer Zeit über Die Kopflastigkeit der Kali-Salze [4] weist auf den Energiestau im oberen Bauchraum hin und damit auch auf den trägen Speisentransport aus dem Magen in den Dünndarm. Somit erklärte sich in seinem Fall die Vergärung der Speisen schon im Magen und die bereits im Röntgenbild sichtbare Luftansammlung unter dem Zwerchfell. Mit der ersten Gabe Kalium bichromicum C200 wandelte sich das Bild dramatisch und nach einer ergänzenden Dosis Syphilinum C200 waren seine Beschwerden eindrucksvoll verringert. Dass mir immer wieder von seinen großen Ängsten, vor allem seine Gesundheit betreffend, berichtet wurde, unterstreicht die Indikation für ein Kali-Salz.
Kalium bichromicum könnte der letzte Mosaikstein sein, den es brauchte, um für mich die Homöopathie neu aufzustellen und zu einer hochwirksamen Heilmethode zu machen, vorausgesetzt, ich finde nicht auch noch Gefallen an Kalium bromatum, Kalium chloricum und Kalium nitricum, an diesen Salzen, die Farrington in seinen Vergleich dieser Mittel mit einbezieht, während er allerdings die von mit sehr geschätzten Kalium-Verbindungen mit Phosphor, Silicea, Arsen und Sulfur gar nicht erwähnt.
Wenn dem so ist, dann ist es an der Zeit, meine Arbeitsweise in einem Buch zusammenzufassen und zu lehren, was allerdings nicht so leicht ist. Denn auch wenn das Arsenal an wirksamen Mitteln nun vervollständigt wäre, so bliebe immer noch offen, wie man vom Anfang einer Fallbetreuung an die richtigen Kombinationen für einen Patienten findet, so wie überhaupt jeder Patient eine neue Herausforderung darstellt, nämlich ihn zu verstehen, zu begreifen und zu begleiten.
Ich werde zu gegebener Zeit noch mehr über die Differenzierung dieser Mittel berichten, wenn ich weitere Erfahrungen damit in der Behandlung chronischer Fälle gesammelt habe.
Literatur
[1] Boericke W: Homöopathische Mittel und ihre Wirkungen. Verlag Grundlagen und Praxis. Leer/Ostfriesland, 1995.
[2] Clarke JH: Der neue Clarke – Eine Enzyklopädie für den homöopathischen Praktiker, Band 5. Stefanovic. Bielefeld, 1996.
[3] Farrington EA: Vergleichende Arzneimittellehre. Similimum. Rupperichtsroth, 1996.
[4] Trebin E.: Die Kopflastigkeit der Kali-Salze.
[5] Trebin E.: Kann dieser Weg noch richtig sein? Spekulationen über die Arbeit mit kombinierten Arzneien.
Bamberg, im August 2022