Das ist eigentlich rasch erzählt. Schon als Assistenzarzt auf dem Weg meiner Ausbildung durch die Kliniken wurde mir bewusst, dass die Schulmedizin wohl hochwirksame Leistungen entwickelt hat, dass sie sich vornehmlich zu akuter Krisenintervention eignet, dass sie uns aber oft im Stich lässt in der Behandlung chronischer Leiden, zu deren wirklicher Heilung sie nicht fähig ist, sondern deren Linderung sie vielmehr erkauft um den Preis der Schwächung von Lebenskraft und Vitalität. Die vielen Antibiotikas, das Cortison, die Analgetika und Immunsuppressiva, welche die gegenwärtige Medizin beherrschen - gewiss nicht selten wirklich lebensrettend -, wirken nicht zuletzt dadurch, so meine zeitige Erkenntnis, dass sie eine überschießende Reaktion des Organismus ausbremsen, ihn also gewissermaßen entwaffnen.
Und darin gleichen sie nicht zufällig den Maßnahmen, die unseren Samuel Hahnemann, den Stammvater der Homöopathie, veranlassten, nach guter Ausbildung den Beruf des Arztes zunächst einmal an den Nagel zu hängen - er wandte sich ab von den Aderlässen, Purgatorien und andere Drastikas, welche das Werkzeug der damaligen Medizin waren und die so manches Opfer forderten. (Wie viele Todesopfer durch Arzneimittel-Nebenwirkungen zählen wir heute? War da nicht jüngst die Rede von 25.000 pro Jahr in Deutschland?) Erst die Entdeckung des Simileprinzips führte Hahnemann zu seinem Beruf zurück und stachelte ihn zu nimmermüdem Forschungsdrang an, dessen Nutznießer wir heute sind.
In mir als primär naturwissenschaftlich ausgebildetem Schulmediziner weckte die Homöopathie zwar zunächst eine gewisse Neugierde, wenngleich ich mir die medizinischen Alternativen - nach meiner Niederlassung forciert gesucht - zunächst lieber in Gestalt von Phytotherapie, Symbioselenkung oder Akupunktur aneignete, Behandlungsmethoden also, welche mir erst mal handfester erschienen und allemal tauglich, dem allgegenwärtigen Kampf gegen irgendwelche Krankheitserreger als vermeintliche Quelle jeglichen Krankseins eine nachhaltigere Therapie durch Stärkung der Widerstandskraft entgegen zu setzen. Aber diese Methoden waren mir nicht potent genug für kritische Situationen. Meine damalige Arzthelferin, als Heilpraktikerin ausgebildet, stachelte mich an, mich mit der Homöopathie zu versuchen, und als ich nach einiger Zeit versuchsweise eine Hochpotenz einnahm und daraufhin eine Arzneimittelprüfungssymptomatik erfuhr, wischte ich meine Skepsis gegenüber dem Unerklärlichen beiseite; schließlich war mir die Erfahrung anderer außersinnlicher Begebenheiten auch nicht fremd und ich gestand mir ein, dass unser wissenschaftliches Instrumentarium nicht alles ergründen kann. Moderne Physiker, mein Bruder ist so einer, kann man mit unseren Erfolgen übrigens gar nicht bluffen; in deren Weltbild hat die Hochpotenz-Homöopathie durchaus ihren Platz.
Ein gutes Anfängerglück und die Erfahrung der Nachhaltigkeit motivierten mich, meine homöopathischen Erkenntnisse weiter zu vertiefen, zunächst mit Hilfe von Büchern, später über den Weg des üblichen Ausbildungszyklusses.Homöopathische Erfolge machen süchtig und verleihen uns die Ahnung von einem göttlichen Funken. Während die anfänglichen Einzelerfolge Zufriedenheit und Bestätigung geben, so will man später mehr und setzt darauf, möglichst alle Herausforderungen zu bestehen. Man wird zum Spieler, der glaubt, alles gewinnen zu können, wenn er nur weiter und weiter seinen Einsatz abgibt.
Schließlich, nach zwölf Jahren Haus- und Kassenarzt, wollte ich nur mehr homöopathisch arbeiten und wechselte, um dafür die wirtschaftlichen Voraussetzungen zu schaffen, in die Privatpraxis. Wenn mir nur genügend Zeit zur Verfügung stünde, würde mir alles gelingen, erwartete ich in einer gewissen Hybris. Ganz so kam es aber nicht; zwar war die Therapie in der Mehrzahl der Fälle erfolgreich, aber die unerfüllten Hoffnungen wollte ich nicht übergehen. Sie ließen mich nicht ruhen und ich musste die Homöopathie, die ich gelernt und die längste Zeit ausgeübt hatte, ein gutes Stück weiter entwickeln. In kleinen Schritten kam ich voran, und jeder dieser Schritte beflügelte mich ungemein, entfernte mich aber auch ein wenig von der gängigen Ausübung der Methode.
Heute arbeite ich sehr viel mit allgemein seltener gebrauchten Arzneien mineralischer Herkunft und stütze meine Mittelwahl fest auf miasmatische Überlegungen, also auf die Würdigung der Langzeitbiografie und der genetischen Vorbelastung, ebenso wie auf Details des körperlichen Untersuchungsbefundes und - soweit erfassbar und ohne unsoliden Spekulationen zu erliegen - auf die Persönlichkeitsmerkmale. Damit gelingt mir einiges besser als zuvor und die Arbeit bekommt von Anfang an mehr Sicherheit und Struktur. Mein “Homöopathisches Credo“, ein erster Aufsatz über die Grundlinien meiner Arbeitsweise, veröffentlicht in der Zeitschrift Homöopathie aktuell vom Nr. 3/2003, war ein frühzeitiger Ansatz, diese Sichtweise weiterzugeben.
Über einen Zeitraum von acht Jahren habe ich mein Verständnis miasmatischer Zusammenhänge fortlaufend vertieft und gleichzeitig immer mehr dieser mineralischen Mittel ausgegraben, die von den alten Homöopathen (vor 80 bis 100 Jahren) wohl eingeführt wurden, die immer noch hergestellt werden, aber über die in der Gegenwart wenig bekannt ist und von denen entsprechend wenig Gebrauch gemacht wird. Mir wurden so manche davon zu unentbehrlichen Helfern wie z.B. Natrium phosphoricum, Kalium silicicum, Mercurius sulfuricus oder Aurum phosphoricum. Dem Kenner der Materie mögen diese Arzneien Verwunderung entlocken, ich glaube jedoch, damit in den letzten Jahren, ja z.T. erst in den letzten Monaten, ein Instrumentarium vervollständigt zu haben, das wirklich fundamentale Heilungen auch tiefer Pathologien zu vollbringen erlaubt.
Mit dieser von mir favorisierten Arbeitsweise, die von unseren homöopathischen Vorfahren bis zu J.T. Kent wohl angedacht, aber nicht konsequent umgesetzt wurde, steht mir eine Grundgerüst zur Verfügung, das vergleichbar ist dem angenehm strukturierten Aufbau der chinesischen Akupunktur mit dem ihr zugrunde liegenden Meridiansystem. Die Auswahl unter den Hunderten gängiger homöopathischer Arzneien gleicht nicht mehr der Suche nach der sprichwörtlichen Nadel im Heuhaufen, sondern lässt sich über bestimmte Pfade treffen, die einerseits durch das Miasma bzw. die Pathologie des Leidens (also Art und Ort der Krankheit) gelenkt werden, andererseits durch die Persönlichkeit und Merkmale des Patienten.
Meine Konzentration auf mineralische Mittel stellt aber nur das Rückgrat der konstitutionellen Behandlung dar, andere Arzneien, etwa pflanzlicher oder tierischer Herkunft, haben aber auch bei mir eine wichtige, ergänzende Funktion ebenso wie der Einsatz von Nosoden.
Andere homöopathische Schulen der Gegenwart, wie z.B. die Seghal-Methode oder die Arbeitsweise nach Masi-Elizalde, welche ihre Arzneimittelwahl vornehmlich auf subtile psychische Strukturen und Persönlichkeitsmerkmale des Patienten stützen - auch Scholten oder Sankaran müssen hier genannt werden -, werden uns vermutlich auch um große Erkenntnisse bereichern. Gerade in der Ergänzung beider Wege sehe ich eine bedeutende Chance, der Homöopathie eine größere Sicherheit in der Therapie und eine bessere Berechenbarkeit ihrer Wirkung zukommen zu lassen.
Und wie so oft erweist sich, dass in kniffligen Fragen Samuel Hahnemann schon eine Antwort vorbereitet hat. Sein großes Vermächtnis der genauen Handlungsanweisungen, das Organon 6. Auflage, beschreibt in den §§ 220 ff das Zusammenwirken psychischer Aspekte und konstitutioneller Gegebenheiten des Patienten als unverzichtbar für eine dauerhafte und verlässliche Heilung.
Gleich welcher Schule: Es gibt nur eine Homöopathie, und das ist eine erfolgreiche! Und ein wenig Unterstützung und Weiterentwicklung kann die Heilmethode, der ich mich wie viele andere Therapeuten mit Leidenschaft verschrieben habe, schon noch brauchen, zu sehr nährt sie sich vielerorts noch überwiegend von der Sympathie und der guten Hoffnung, das muss man ehrlicherweise zugeben.
Ich meine sogar, dass sie sich derzeit in einer Krise befindet. Gegenwind bereiten einige Studien, in denen sie, trotz der alltäglich erlebten wundersamen Erfolge, nicht den statistischen Beweis erbringen kann, nachweislich Heilungserfolge zu erreichen, die über den Placeboeffekt hinausgehen, und somit auch nicht Anerkennung in der Wissenschaft und auch bei den Kostenträgern erlangen kann. Meine auf täglicher Erfahrung aufbauende Überzeugung ist aber, dass die Homöopathie durchaus das Potenzial hat, große Heilungen zu vollbringen, von Abwehrschwäche, Allergien, Asthma, Rheuma, Neurodermitis, Migraine, MS, Psychosen und vielem anderem mehr, dass aber wohl erst der Rückgriff auf die Leistung der Alten und eine wirkliche Weiterentwicklung der Erkenntnisse Hahnemanns und seiner Mitstreiter oder Nachfolger wie von Boenninghausen, Hering, Kent und Burnett diese Kunst zu entfalten vermögen.
Bamberg, im Jahr 2005