33 Jahre beschäftige ich mich nun mit der Homöopathie; vor gut 20 Jahren aber erfuhr meine Arbeit einen kräftigen Impuls, weil ich in die Privatpraxis wechselte und von da an mich der Aufgabe unterwarf, alle anstehenden Probleme möglichst mit dieser Methode alleine zu bewältigen. Die Überzeugung war da, die Umsetzung aber machte erst noch viele Erkenntnisschritte erforderlich, zum Teil eigenen Gedanken und Erfahrungen folgend, zum größeren Teil aber aufbauend auf alten, aber verstreuten Einsichten, die darauf warteten, zusammengeführt zu werden.
Zunächst wurde mir klar – und dies war schon die feste Überzeugung alter Homöopathie- Größen, wenngleich auch heute, 175 Jahre nach Hahnemanns Tod, immer noch nicht Allgemeingut –, dass keineswegs jede Arznei für jede Erkrankung taugt. Vielmehr ist es mir zur Selbstverständlichkeit geworden, in der Behandlung chronischer Erkrankungen vor allem die mineralischen Mittel zu berücksichtigen, allerdings ohne die sogenannten Satellitenmittel zu vernachlässigen, Nosoden etwa zu Auflösung miasmatischer Blockaden, Akutarzneien oder überwiegend aus dem pflanzlichen Fundus stammende Präparate zur Beantwortung von Kausalitäten bzw. wegbereitenden Traumatisierungen.
Nachdem ich aber mit Phosphor, Sulfur, Arsen, Silicea, Natrium muriaticum etc., diesen allgegenwärtigen Glanzlichtern, alleine auch nicht so recht glücklich wurde, entdeckte ich die Bedeutung sogenannter kombinierter Arzneien, Salzen also, wie sie etwa von Wilhelm Schüßler [6] eingeführt wurden. Über Calcium phosphoricum, Natrium sulfuricum etc. fand ich zu so selten bedachten Mitteln wie Arsenum sulfuratum flavum oder Mercurius silicicus u.v.a.m. [1,4,5,7]. Nun ergaben sich schon wesentlich mehr Erfolge als zuvor. Die Erklärung dafür legte ich mir damit zurecht, dass jeder der beiden Anteile des Salzes, also Kation und Anion, ein unterschiedliches Miasma repräsentieren würden und ihr Wert darin liege, dass chronische ernsthafte Leiden aus einer Verquickung mehrerer Miasmen erwüchsen. Ein vereinfachtes Miasmensystem erlaubte mir schließlich eine schlüssige Zuordnung.
In den vergangenen ca. 5 Jahren tat sich aber noch ein weiteres Prinzip auf, die Einsicht nämlich, dass genetische und biografische Faktoren jeweils unterschiedlicher Antworten bedürfen. Das sah zunächst so aus, dass ich neben den chronisch-hereditären Miasmen [2] Psora, Tuberkulinie, Sykose und Syphilinie dem karzinogenen Miasma eine Art Parallel- Existenz einzuräumen begann: es steht für Unterdrückung und repräsentiert für uns alle die Tatsache einer mehr oder weniger ausgeprägten Einschränkung unseres freien Willens, das Ergebnis unserer Sozialisation also.
Und weil Unterordnung das Hauptthema der Kalium-Salze ist [10], sah ich in ihnen die angemessene Ergänzung zu Carcinosinum und erkannte die Notwendigkeit, allen anderen Behandlungswegen ein Kali-Salz zur Seite zu stellen. Von dieser biografischen Prägung sind wir in unvermeidlicher Weise alle betroffen, aber wenn sie eine intensivere Beeinträchtigung unserer Persönlichkeitsentwicklung mit sich brachte, so ist sie verantwortlich – wie viele Fälle zeigen – für somatoforme Reaktionen, psychische Störungen oder Krankheiten mit hohem autoaggressivem oder destruktivem Potential bis hin zum Krebs in letzter Konsequenz.
Meine Arbeitsweise hat sich über die letzten 20 Jahre immer weiter verfeinert und Schritt für Schritt von der Polychrest-Homöopathie abgelöst. Aber bei jeder weiteren Stufe habe ich mein Tun in Frage gestellt. Nicht wenige dieser Fährten waren auch Sackgassen, waren einseitige Auslenkungen, die von der Realität schließlich korrigiert und auf ihren tatsächlichen Stellenwert zurechtgestutzt wurden.
Die Tabelle zeigt die Salze auf, mit denen ich mich befasst habe. Ein großer Teil stammt aus dem Fundus von Schüßler [6], weitere hat Kent [1] eingeführt, und von einer Vielzahl anderer, von denen nur ein Teil in der dritten Säule aufgeführt ist, kennt man weder Autor noch Literatur. Es existiert noch eine ungeheure Menge solcher Kombinationen, wie ein Blick auf das Angebot der Firma Remedia zeigt (www.remedia.at); vermutlich hat man in der Generation von Kent damit experimentiert.
Mittlerweile habe ich aber für mich auch innerhalb dieser Liste eine starke Reduktion vorgenommen. Beispielhaft ist der Fall des Patienten W.W., heute 60 Jahre alt, den ich ab 2005 zwei Jahre lang mit Arsenum jodatum in aufsteigenden Potenzen behandelt habe und damit von einer Basedow-Hyperthyreose befreien konnte. Jahrelang beschwerdefrei, stellte er sich nach 10 Jahren wieder vor, da man bei ihm zwischenzeitlich die fortschreitende Entwicklung eines Aneurysmas der Aorta ascendens erkannt und ihm nun ein Limit gesetzt hat, bei dessen Erreichen eine Gefäßprothese indiziert sei: bei 55 mm Durchmesser. Kalium jodatum wird als einzige Arznei für diese Symptomatik angeführt [3,9].
Die Folgerung für mich lautet, seine Behandlung nun mit diesem klassischen Antisyphilitikum weiterzuführen, aber im Wechsel mit Natrium arsenicosum, denn offensichtlich genügte die bisherige Therapie seinen Veranlagungen noch nicht. Damit erfolgte nun eine Spreitung: Ars- j. wurde in seine Einzelbestandteile zerlegt, die nun als Kali- wie als Natrium-Salz die Arbeit fortsetzen und vermutlich die bessere, weil nachhaltigere Lösung darstellen.
Und auf diese Weise musste ich, nach Einführung dieser dualen Therapieform, viele weitere Fälle nachbessern, andererseits mich aber auch von einigen der aufgeführten Salze trennen. So auch bei einem Patienten, der lange Zeit gut betreut war mit Aurum phosphoricum, das später aber aufgespalten wurde in Aurum muriaticum natronatum und Kalium phosphoricum [8].
Es zeichnet sich also schon ab, dass jedem meiner Patienten mittlerweile sowohl ein Kalium- wie auch ein Natrium-Salz zugeordnet wird. Calcium- oder Magnesium-Salze verwende ich nur mehr situationsbezogen, nicht mehr als Konstitutionsarzneien. Diese Reduktion erscheint vielleicht dilettantisch und einfältig, ist aber effektiv und doch gar nicht so einfach zu handhaben. Das größte Problem, an dem ich mich noch abmühe, ist die Frage der Kombination: was ordne ich dem Kali-, was dem Natrium-Salz zu. Noch fehlt mir dafür der sichere Schlüssel und so muss oft erst der Verlauf die Antwort liefern.
Warum wohl jeder Patient ein Kalium-Salz braucht, das habe ich oben schon angedeutet: weil wir alle im Zuge unserer Sozialisation Kontroll-Mechanismen erworben haben. Längere Zeit suchte ich aber die Antwort auf die Frage, ob und warum wir wohl alle ein Natrium-Salz brauchen. Kollege Ralf Werner hat in der Homöopathie aktuell 3/2012 diese Frage schon einmal aufgeworfen, bejaht und begründet [11]. Aber erst der amerikanische Psychiater Irvin D. Yalom hat mir in seinem Buch Die Liebe und ihr Henker eine Antwort geliefert: Die existentielle Isolation, eine ... Grundtatsache des Lebens, (sie) bezieht sich auf die unüberbrückbare Kluft zwischen dem Ich und den anderen, eine Kluft, die auch in intensivsten zwischenmenschlichen Beziehungen nicht zu überwinden ist. [12]
Das leuchtet mir ein, denn dadurch wird eigentlich erst unsere Individualität ermöglicht. Was hier sehr konstruiert klingt, könnte doch eine fundamentale Erklärung sein – und Raum für weitreichende philosophische Betrachtungen geben. Und welche unserer Arzneien repräsentieren mehr diese Abgrenzung als Natrium muriaticum und sein pflanzliches Äquivalent Thuja?
Meine Patientenkartei umfasst etwa 3500 Krankenjournale aus den vergangenen 20 Jahren Arbeit. Viele Behandlungen sind abgeschlossen, andere Klienten zogen sich zurück wegen nur teilweisen oder ganz unzureichenden Erfolgen, manche blieben nur ganz kurz und fanden keinen Zugang zu mir oder der Therapieform, andere verlor man an die Krankheit oder sie wechselten den Wohnort. Aktuell sind ca. 500 Patienten in meiner laufenden Betreuung, fast alle in regelmäßigen Konsultationskontakten im Zuge einer konstitutionellen Therapie, in Intervallen von 1, 3 oder bis zu 12 Wochen. Nur einzelne kommen wegen lediglich akuten Anlässen – schließlich bin ich ja nicht nur Homöopath, sondern auch Allgemeinarzt. Eine Sichtung zeigte mir, dass es in der Gegenwart bzw. jüngeren Vergangenheit nur etwa zwei Dutzend Patienten gibt, bei denen es mir noch nicht gelang, trotz bis zu mehrjähriger Betreuung einen fundamentalen Einstieg in ihren Krankheitsprozess zu erreichen (von marginalen Erfolgen abgesehen). Früher, vor der Entwicklung der oben genannten Arbeitsweise, waren das ganz andere Zahlen, musste ich weit häufiger schulterzuckend meine Unzulänglichkeit akzeptieren.
Die Masse meiner Konsultationen betrifft Patienten aller Pathologien und in allen Stadien eines dynamischen Behandlungsprozesses; wo wir uns also auf dem Weg zu einem schrittweisen Abbau ihrer Pathologie befinden, wo sich Fortschritte abzeichnen, aber weiterhin Betreuungsbedarf zu erkennen ist, doch mit der Aussicht – Beharrlichkeit und Geduld vorausgesetzt –, die gesetzten Ziele zu erreichen, Altlasten zu tilgen, eine Krankheitsprogression zu stoppen und, soweit reparabel, eine weitgehend vollständige Gesundheit wieder herzustellen.
Bei den ungelösten Fällen müssen wohl Blockaden wirken, deren Lösung mir noch nicht zugänglich geworden ist. Gerade die stark belasteten Biografien widersetzen sich hartnäckig unseren Bemühungen, stärker als die rein genetischen Faktoren, zumal hier oft verdrängte Emotionen am Werk sind, die der Therapeut mehr erahnen muss als dass sie vom Patienten wahrgenommen und präsentiert werden. Ein, wie oft gesehen, durch familiäre Dramen oder eine problematische Kindheit schwer beschädigtes Urvertrauen lässt sich wohl kaum wiederherstellen, jedoch halbwegs ausgleichen; eine lange Begleitung ist hierbei oft nötig und hilfreich.
Mit diesen Überlegungen und Argumentationen wollte ich also meine Entwicklung und gegenwärtige Arbeit vorstellen, wohl wissend, dass aus der Sicht der Standard-Homöopathie ebenso der neueren Strömungen diese befremdlich wirken muss. Doch die Fülle an Leidensfällen, aber auch meine eigenen gesundheitlichen Störungen haben mich diesen Weg gewiesen, den zu vermitteln sicher keine einfache Aufgabe ist. Ich hinterfrage ihn täglich und bekenne auch gerne, dass ich noch nicht fertig bin mit dieser Aufgabe.
Bamberg, im August 2018
[1] Kent JT. Neue Arzneimittelbilder der homöopathischen Materia medica. Heidelberg:
Haug; 1997.
[2] Laborde Y, Risch G. Die hereditären chronischen Krankheiten. München: Müller &
Steinicke; 1998.
[3] Murphy R. Homoeopathic Medical Repertory, second edition. Durango, Colorado, USA:
Hahnemann Academy of North America; 1996.
[4] Sankaran R. Das geistige Prinzip der Homöopathie. Mumbai, India: Medical publishers;
1995.
[5] Scholten J. Homöopathie und Minerale. Utrecht NL: Stitching Alonnissos; 1997.
[6] Schüßler WH. Eine abgekürzte Therapie. Oldenburg und Leipzig: Schulzesche
Hofbuchhandlung; 1898.
[7] Springer W. Kombinierte Arzneimittel in der Homöopathie. Stuttgart: Haug; 2008.
[8] Trebin E. Aurum phosphoricum. AHZ 2/2007.
[9] Trebin E. Aortenaneurysma. AHZ 3/2018.
[10] Trebin E. Carcinosin und die Kali-Salze. Homöopathie aktuell 4/2010, oder
unter www.ernst-trebin.de
[11] Werner R. Die überragende Bedeutung von Natrium muriaticum. Homöopathie
aktuell 3/2012.
[12] Yalom ID. Die Liebe und ihr Henker. München: Albrecht Knaus Verlag; 2001.