"Wo werden Sie Ihren Sommerurlaub verbringen?", fragte ich Claudia S.. "In Florida", antwortete sie. Claudia S., 31 Jahre alt, stand schon ein halbes Jahr in meiner Behandlung, sie war an Multipler Sklerose erkrankt. Ein erster Schub vor dreieinhalb Jahre verursachte Sensibilitätsstörungen der linken Körperseite, nun gab es einen zweiten Schub mit Gefühlsstörungen der rechten Seite und einer vorübergehenden Lähmung des rechten Gesichtsnervs, was sie veranlasste, sich in homöopathische Behandlung zu begeben. Die Schulmedizin hatte sie auf die Injektion mit Rebif eingestellt, einem Interferon-Präparat (Kosten pro Jahr 20.000 €, wie alle Immuntherapeutika dieser Art meines Erachtens aber bei der MS völlig wirkungslos).
Meine erste Frage bei MS-Schüben gilt irgendwelchen Stressfraktoren als mögliche auslösende Ursache. Sie fühlte sich aber wohl in ihrem Beruf, obwohl sie, als Krankenschwester, Nachtdienste leisten musste. Zwei Jahre vor unserem ersten Kontakt allerdings war ihr Vater gestorben, dessen Hausstand sie und ihr Bruder aufzulösen hatten. Ihre Eltern hatten sich getrennt, als sie 12 Jahre alt war, und sie lebte danach bei ihrem Vater. Zur Mutter besteht kein schlechtes Verhältnis; diese begleitet sie immer bei ihren Arztbesuchen. Wenige Wochen vor Ausbruch des letzten Schubes hatte sie einen neuen Freund gefunden, der aber trotz der Erkrankung fest zu ihr hielt. Drei Jahre vorher war eine Beziehung zu Ende gegangen; die Schuld für das Scheitern suchte sie bei sich.
Ein paar Hinweise gab es für Silicea: Eine schlechte Zahnsubstanz mit guter Neigung zu Karies sowie zu Zahnwurzelabszessen und eine gewisse Reizbarkeit (Heftig wenn geärgert: Silicea). Vor allem aber ihre Erscheinung wies in diese Richtung: Sie ist eine kleine, zierliche Person mit einem sehr korrekten, strengen Äußeren. So trägt sie ihr Haar sorgfältig geflochten, hat eine aufrechte Haltung wie eine Balletttänzerin, achtet auf eine stimmige Kleidung und ist auch sonst auf Kleinigkeiten bedacht, was sie sich selbst als Charakterzug zuschrieb.
Im Falle einer Encephalomyelitis disseminata erlaubt das Ausbleiben von Rückfällen noch kein Urteil über die Richtigkeit der homöopathischen Arzneimittelwahl. Begleitende Symptome sind entscheidend, um den Verlauf bewerten zu können. Neben einem praemenstruellen Brustspannen hatte sie ein weiteres, bedeutendes Symptom, nämlich chronisch offene Mundwinkel. Da ihr Erscheinungsbild von den körperlichen Symptomen bis zu den charakterlichen Merkmalen für Silicea sprach, andererseits aber einige Details für Natrium muriaticum, wie z. B. eine Milchunverträglichkeit, begann ich ihre Behandlung mit Natrium silicicum. Doch der Fortschritt war gering, es änderte sich zunächst nicht viel an ihrem Befinden.
"Was zieht Sie nach Florida", war meine Frage. "Dort gibt es die größten Achterbahnen der Welt, und ich reise überall hin, wo große Achterbahnen stehen".
Was bedeutet nun diese Aussage für den Homöopathen? Suche nach Grenzerfahrung, war meine Interpretation, und lenkte mich zu Carcinosin. Hatte sie denn sonst Hinweise auf das karzinogene Miasma? Die Schuldgefühle etwa nach der Trennung von einem früheren Freund? Aber möglicherweise auch, und das wurde mir erst jetzt bewusst, die Position innerhalb ihrer Familie: Sie zog nach der Trennung der Eltern zu ihrem Vater, übernahm vielleicht dort nicht nur Verantwortung für ihn, sondern auch gewissermaßen die Rolle der Ehefrau, beides unangemessen für ein junges Mädchen.
Über die Prägung durch biographische Erfahrungen habe ich in der "Homöopathie aktuell", Ausgabe 4/2010, einen Aufsatz geschrieben unter dem Titel "Carcinosin und die Kali-Salze" (auch nachzulesen unter www.ernst-trebin.de). Darin beschreibe ich die Auswirkungen vorzeitiger und unangemessener Verantwortungsübernahme durch junge Menschen auf die spätere Entwicklung, formuliere darin Gründe für die Etablierung des karzinogenen Miasmas und für die Rolle der Kalium-Salze in dieser Lebenskonstruktion. Meine Arbeitsweise stützt sich gerne auf den Einsatz sogenannter zusammengesetzter, kombinierter Arzneien, gewählt vor dem Hintergrund miasmatischer Überlegungen.
So fiel meine Entscheidung für das weitere Vorgehen bei Claudia S. auf Kalium silicicum. Und tatsächlich heilten alle bestehenden Probleme schrittweise unter dieser Medikation aus: Die Mundwinkel kamen zur Ruhe, ebenso das Brustspannen, und das ganze Befinden stabilisierte sich, MS-Erscheinungen traten nicht mehr auf, Kontrolluntersuchungen konnten keine weiteren Herde nachweisen.
Vor einem halben Jahr, die Patientin wirkte schon sehr stabil und es wurden für die weitere Behandlung größere Konsultations-Abstände vereinbart, kehrte das Brustspannen vehement zurück; die Erklärung war: sie war schwanger. Die Interferon-Therapie wurde abgesetzt, das Kind ist mittlerweile geboren, und während der Schwangerschaft und jetzt nach der Entbindung zeigte sich eine andere Symptomatik, die nicht mehr in das MS-Bild passt, Herzrhythmusstörungen nämlich und Harnwegsinfekte. Die bisherige Behandlungsstrategie, die unter Berücksichtigung des karzinogenen Miasmas weitgehend Frieden schaffte, scheint ausgereizt, und nun wird es erforderlich, ihrer Konstitution zugrunde liegende vermutlich syphilitische und sykotische Komponenten zu beruhigen, über das sich das karzinogene Miasma sozusagen darübergestülpt hatte. Die Syphilinie, dessen bin ich mir sicher, ist die eigentliche Grundlage der MS-Erkrankung, Vorschub hat aber die Karzinogenie geleistet.
So geht es mir in einer Vielzahl von Fällen, die mich in der jüngeren Zeit dafür sensibilisiert haben, dass unsere Krankheitprozesse einerseits auf einer angeborenen hereditär-miasmatischen Veranlagung beruhen, andererseits gesteuert sind durch Prägungen, die das biografische Erleben mit sich gebracht hat. Und das erfordert zwei verschiedene Behandlungslinien, die sich ablösen oder ineinander greifen müssen. Einfacher wird unsere Arbeit dadurch nicht, aber wenn man diese Zusammenhänge verstanden hat, wird man doch in die Lage versetzt, komplexe Krankheitsverläufe grundlegend und nachhaltig zu bereinigen.
Gleichfalls in der "Homöopathie-aktuell", Ausgabe 3/2010, beschrieb ich unter dem Titel "Mehrere Pfeile im Köcher" die Behandlung eines heute 66-jährigen Patienten mit rheumatischer Polyarthritis. Er hat nicht nur in früheren Zeiten eine Colitis ulcerosa gehabt und später unklare neurologische Ausfälle erlebt, bevor ihn diese entzündliche Gelenkserkrankung erfasste.
Auch seine Biographie enthielt dramatische Elemente, da der alkoholkranke Vater die Familie massiv tyrannisierte. So war es aus der primären Miasmatik heraus verständlich, dass seine eigene Behandlung mit antisyphilitischen Mitteln geführt wurde, in erster Linie mit Mercurius sulfuricus. Das Rheuma konnte damit erfolgreich bereinigt werden, die Gelenksschmerzen und auch die Entzündungsparameter in der Labordiagnostik kamen zur Ruhe. Danach allerdings stellte sich eine Arthrose der Kniegelenke ein, welche auf die bis dahin geführte Behandlungsstrategie nicht mehr ansprach. Jetzt gedachte ich wieder seiner Vorgeschichte und besann mich seiner Entwicklung: Er hatte viel Elend zu Hause erlebt, seine Mutter war ein klassisches Opfer und starb völlig verbraucht mit 50 Jahren. Er selbst entwickelte großes politisches Engagement und wurde zu einem entschiedenen Kämpfer gegen rechtsradikale Umtriebe. Auch hier führten mich meine Überlegungen zum karzinogenen Miasma, veranlassten mich, ihm zunächst Carcinosin zu geben ("So gut habe ich mich schon lange nicht mehr gefühlt", war die Schilderung seines Befindens drei Wochen später) und die Behandlung schließlich mit Kalium sulfuricum fortzuführen. Der günstige Verlauf gestattete, nach einem 3/4 Jahr die Therapie abzuschließen.
Auch hier gesellte sich das karzinogene Miasma als Produkt biographischer Erfahrungen, vielleicht aber auch genetisch übernommen von der Mutter, die in ihrer Opferrolle umkam, zu der zugrunde liegenden syphilitischen miasmatischen Veranlagung.
Verantwortung und Fürsorge, vermutlich auch hier schon in die Wiege gelegt, kennzeichneten das Leben der jungen Sylvia M., heute 20 Jahre alt. Sie war immer ein Sonnenschein, umsorgte und verwöhnte ihre Familie und ihre Freundinnen. Vor vielen Jahren hatte sie ein juckendes Ekzem, das mit einer Gabe Sulfur C200 aus der Hand einer Kollegin rasch zur Ruhe gebracht wurde. Als sie dann in meine Behandlung kam, 2007, berichtete man von einem in der Folgezeit aufgetretenen Hirntumor, einem Ependymom am Hirnstamm, das zunächst chirurgisch behandelt und nach einem Rezidiv nachbestrahlt wurde. Allerdings war dieser Tumor nicht restlos zu entfernen. Ihr Konstitutionsmittel war mir lange Zeit nicht klar, aber unter der Behandlung mit Conium, alleine auf das Symptom des Tumors hin gewählt, wurde eine deutliche Verkleinerung erreicht. Nach gut drei Jahren kam das Ekzem in sehr massiver Form zurück. Nach einer längeren Zeit der Suche nach einer geeigneten Arznei fand ich schließlich zu Kalium sulfuricum, was prompt und bei Rezidiven immer wieder erfolgreich das Ekzem beherrschen ließ. Allerdings war es dann auch vorbei mit dem lieben Mädchen, denn sie entfaltete eine gehörige Rebellion für einige Zeit. Die Behandlung setzte sich fort mit Carcinosin im Wechsel mit Kalium sulfuricum, das Mädchen stabilisierte sich in allen Bereichen und hat, nach ihrer rebellischen Phase, wieder zu einem ausgeglichenen Wesen zurück gefunden. Und der Tumor schrumpft immer weiter.
Worin lag in ihrem Fall die Prägung durch das karzinogene Miasma? Erst als ich die Behandlung eines Onkels mütterlicherseits übernahm, wurden mir gewisse Familiendramen bewusst. Ihr Onkel ist schwer debil und autistisch, er war keine Freude für seine gefühlskalte Mutter und wurde und wird auch bis heute noch mit hoher Verantwortlichkeit von seiner Schwester, der Mutter unserer Patientin, betreut. Hier hat sich wohl eine Verantwortung im Sinne des karzinogenen Miasmas etabliert, die, und das kann natürlich nur spekulativ formuliert werden, entweder genetisch oder auf dem Weg eines übernommenen Verhaltens die Gesundheit unserer jungen Patientin geprägt hat. Unterdrückung, Verdrängung oder frühzeitige Übernahme unangemessener Verantwortung - bei nicht wenigen meiner Patienten erlebe ich solche Prägungen, die ihre jungen Jahre beeinflusst haben. Freilich sind die hier vorgestellten Fälle besonders eindrucksvoll.
Doch stellt sich die Frage, ob wir nicht alle, die wir im Laufe unserer Sozialisation und unseres Erwachsenwerdens unsere kindliche Unbekümmertheit und Spontaneität ablegen, Gefühlskontrolle erlernen und zunehmend in die Verantwortlichkeit hineinwachsen, um von ihr vielleicht vollends vereinnahmt zu werden, ob wir uns nicht alle dadurch mehr oder weniger Kali-Elemente aneignen.
Brauchen alle Menschen Natrium muriaticum?, diese Frage stellte Kollege Werner in der "Homöopathie aktuell" 3/2012, und in meiner Antwort in Heft 1/2013 stimmte ich diesem Gedanken großteils zu. So stellt sich nun die Frage, ob wir nicht alle früher oder später auch von einem Kalium-Salz Gewinn haben. Die klassischen Alterskrankheiten, hier vor allem zu nennen Arthrosen und Herzinsuffizienz, sind meines Erachtens typische Indikationen für ein Kali-Salz und liefern somit ein gewisses Indiz für die Berechtigung meiner Vermutung.
Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen• (Evangelium nach Matthäus)
Bamberg, im Juni 2013
Veröffentlicht in der Homöopathie aktuell, Ausgabe 4/2013