Es mag zehn oder zwölf Jahre her sein, dass ich auf Einladung des Kinderschutzbundes einen Vortrag hielt über die Homöopathie, über ihre Möglichkeiten, aber auch, was ich nie in der Öffentlichkeit verschweige, über die Schwierigkeiten dieser Therapie-Methode. Offenbar hatte ich meine Zuhörer überzeugend aufgeklärt, denn am nächsten Morgen meldete sich ein Herr am Telefon mit der Bemerkung: “Meine Frau war gestern in Ihrem Vortrag und nun weiß ich, dass Sie der einzige Mensch sind, der mir helfen kann.”
Meine Helferinnen dämpften seine Hoffnung mit dem Hinweis, dass ihr Chef über die nächsten Wochen ausgebucht sei und dass für eine Grundanamnese, wie sie bei jedem Neuzugang erforderlich sei, auf längere Sicht keine Aussicht bestünde. Er schaffte es trotzdem, sich für den gleichen Tag noch einen wenigstens kurzen Termin für eine Schilderung seiner Probleme zu sichern.
Die Praxis betrat ein gepflegter Herr in reiferen Jahren, von freundlichem Auftreten und warmem Händedruck. Seine Klage: Er leide an fürchterlichen Schlafstörungen, alle Stunde erwache er aus schlimmen Träumen, schweißgebadet und aufgewühlt. Zu seiner Person erfuhren wir weiter: Er sei Geschäftsmann, vertreibe riesige Baumaschinen und LKWs, deren Räder größer als ein Mann seien; er sei von leidenschaftlichem Temperament, könne in seinem Büro brüllen, dass die Wände wackeln, und sei doch zutiefst gerührt, wenn er im Fernsehen von Not leidenden Kindern erfahre; auch die Liebe sei ihm wichtig und trotz seiner reiferen Jahre unverzichtbarer Bestandteil seines Lebens.
Bei all seiner Warmherzigkeit erweckte er den Eindruck, dass nun er der Boss in meinem Hause sei und ich quasi die Rolle eines Subunternehmers einnehme, von dem die Erfüllung eines Auftrags erwartet werde.
Eine erste Überlegung war: Gestresster Geschäftsmann von cholerischem Temperament und dadurch bedingten Schlafstörungen. Folglich war die erste Gabe Nux vomica, was ihm aber nur für ein bis zwei Nächte etwas Linderung verschaffte. Dann kam er wieder und ich versuchte, noch ein wenig mehr Informationen aus ihm herauszuholen. Es gab aber weiter nichts zu beanstanden als ein leichtes, juckendes Ekzem der Unterschenkel. Sulfur kam mir nun in den Sinn, unter anderem weil ich eine Rubrik fand: Erwachen zu jeder Stunde. Auch dies half nur sehr begrenzt und als er nun seinen nächsten Besuch ankündigte, lag es an mir, nicht mehr zu schlafen, weil ich mit leeren Händen dastand, aber einem hohen Erwartungsdruck ausgesetzt war.
Ich versuchte nun, mehr über seine Familie herauszufinden, und erfuhr, dass seine Mutter relativ früh, mit ca. 45 Jahren, an einem plötzlichen Herztod verstorben war. Nun ging mir ein Licht auf: Früher Herztod bei nahen Angehörigen, ein Geschäftsmodell, das von Übertreibung geprägt war (riesige Baumaschinen), extreme psychische Reaktionsweisen, ein hohes Dominanzbestreben und ein lebhafter Eros, dies alles sprach für Medorrhinum.
Er erhielt eine Dosis und war von nun an von seiner Not befreit. Ich traf ihn später vereinzelt bei öffentlichen Veranstaltungen und jedes Mal schüttelte er mir ergeben die Hand und bedankte sich für meine Hilfe.
Dies ist allerdings einer der wenigen Fälle, bei denen mir eine Nosode alleine zu einer nachhaltigen Lösung verhalf, denn meistens dienen mir diese Arzneien nur im Zusammenwirken mit konstitutionell angezeigten Mineralien.
Die Rede ist hier von den Nosoden, die den allgemein anerkannten fünf chronisch-hereditären Miasmen zuzuordnen sind, wie sie Yves Laborde in seinem Werk ausführlich beschrieben hat: Psorinum, Tuberculinum, Medorrhinum, Syphilinum und Carcinosinum.
Nosoden sind homöopathisch aufbereitete Arzneimittel, die aus biologischem Material wie Blut, Sekreten aus Schleimhäuten oder anderen Krankheitsausscheidungen wie etwa Eiter gewonnen sind und in der Regel Krankheitserreger, aber auch die Bestandteile der Entzündungsreaktion des Organismus, enthalten. (Was davon dem therapeutischen Wert zugute kommt, der Erreger oder die Sekrete als Reaktionsform des Organismus, sei dahingestellt.) Die Ausgangssubstanz wird sterilisiert und – gottlob! – unendlich verdünnt, bevor wir sie unseren Patienten verabreichen. Constantin Hering (1800 bis 1880) hat Psorinum eingeführt, in dem er aus den Schuppen einer krätzekranken Haut erstmals ein homöopathisches Präparat bereitete. Hahnemann wusste davon, war aber in seiner Beurteilung dieser Arznei unentschieden. Später war es Samuel Swan (1814 bis 1893), der Tuberculinum aus dem Eiter einer an Schwindsucht erkrankten Lunge verwendete, schließlich Medorrhinum aus dem Harnröhrenausfluss eines Tripperkranken und Syphilinum (oder auch Luesinum genannt) aus dem Sekret des harten Schankers gewann. J.H. Clarke (1853 bis 1931) und J.C. Burnett (1840 bis 1901) wandten sich dem Krebsgewebe zu, aus dem sie Carcinosin gewannen, um es zunächst in der Tumorbehandlung einzusetzen (wobei dessen Wert aber weit darüber hinausgeht).
So merkwürdig es erscheinen mag: Nosoden sind hochwirksame Arzneien! Drei Reaktionsmuster erlebe ich auf ihren Einsatz hin: Der Fall kann einen entscheidenden Impuls zu seiner Heilung erfahren; oder es bewegt sich nicht viel, aber die nachfolgenden Arzneien wirken besser; die Arznei kann aber auch die Symptomatik erheblich aufwühlen und provozieren, was in dem Patienten steckt und noch unerlöst ist an Krankheitsbereitschaft.
Um dies zu vermeiden, empfehle ich, in der Regel Nosoden nicht an den Anfang einer homöopathischen Kur zu setzen, sondern zunächst zu versuchen, vor allem mit mineralischen Medikamenten der Konstitution des Patienten gerecht zu werden; anders bei Kindern, deren Charakteristika oftmals noch wenig ausgeprägt sind und bei denen Nosoden aus dem Wissen um ihre genetische Vorlast heraus gegeben werden, aus dem Wissen um die primäre Miasmatik, wie Laborde es ausdrückt.
Burnett arbeitete in der Behandlung seiner Tumorfälle überwiegend mit diesen oben genannten Nosoden, er aber gab intermittierend sogenannte Drainagemittel; das waren organotrope Arzneien in Urtinktur oder Tiefpotenzen. Er hatte große Erfolge damit.
Außer den genannten fünf, vor allem der Behandlung chronischer Krankheiten dienlichen Nosoden, gibt es eine unüberschaubare Fülle weiterer Nosoden, meist Akutkrankheiten und deren Folgen gewidmet bzw. Erkrankungen, die in Ähnlichkeit dazu stehen. Martin Bündner hat einst einen Überblick über das Angebot verfasst. Man denke etwa an die Pertussis-Nosode, konkret in Keuchhustenfällen einzusetzen, vor allem dann, wenn keine besonderen Charakteristika zu sehen sind; an die Mononukleose-Nosode, wenn Spätfolgen des Pfeifferschen Drüsenfiebers zu behandeln sind; oder an die MKS-Nosode (Maul- und Klauenseuche), wenn eine Hand-Fuß-Mund-Krankheit vorliegt. Im gleichen Sinne werden auch Anthrazinum oder Pyrogenium aus Gründen der Ähnlichkeit mit der Symptomatik des Kranken eingesetzt. O.A. Julian hat viele davon beschrieben. Des Weiteren beschreibt uns Tinus Smits den Einsatz von Impfnosoden in der Behandlung von Folgeschäden von Impfungen.
Die Indikation für eine Nosode leitet sich von ihrem eigenen Prüfungs- und Arzneimittelbild ab (worauf einige Homöopathen bestehen), ist aber auch gegeben (und diese Erfahrung haben wieder andere gemacht), wenn wir uns in einem bestimmten Miasma bewegen, der Fall aber nicht vorankommt – womit die Nosode der Bereinigung der ererbten Altlast dient und deren Blockade auflöst. Manche Therapieformen setzen sogar ganz intensiv auf die Arbeit mit Nosoden, so etwa die Elektroakupunktur nach Voll.
Während diese Arzneien von Krankheitsprodukten abgeleitet sind, meist von pathologischen Sekreten, gewinnt man Sarkoden aus Organgewebe, meist gesundem Gewebe wie etwa Placenta (was in den letzten Jahren an Beliebtheit gewonnen hat), aber auch wie das Carcinosin aus krankem Gewebe (weshalb dieses Produkt eigentlich eine Sarkode ist, aber gewohnheitsmäßig den Nosoden zugerechnet wird).
Manche dieser Therapien sind schon längst nicht mehr der klassischen Homöopathie zuzurechnen, bedienen sich aber deren Methodik. Aber schließlich gibt es in der Homöopathie überhaupt viele Parallelwelten. Vielleicht spiegeln die folgenden Aufsätze etwas von dieser Vielfalt wider. Lassen wir uns überraschen•
Ernst Trebin,
Bamberg, im Mai 2013
Veröffentlicht in der Homöopathie-Zeitschrift II/2013