Ich glaube, dass jeder Homöopath, der sich längere Zeit mit der Behandlung chronischer Leiden befasst, früher oder später seinen eigenen Weg finden muss, dieser Aufgabe gerecht zu werden. Die erlernten Standard-Lösungen scheinen nicht wirklich zu befriedigen. Anders kann ich es mir nicht erklären, dass sich in den letzten 30 Jahren so viele neue Schulen etabliert haben und selbst ausgewiesene Großmeister unseres Fachs zum Teil exotische Wege einschlagen.
Die einen gehen zurück auf eine genuine Homöopathie, suchen ihr Heil im Wortlaut der Arzneimittelprüfung, andere reduzieren sich auf die schlichten Repertorien von Boger oder Bönninghausen. Wieder andere konzentrieren sich auf die Essenzen unserer Arzneien, angestoßen von Vithoulkas, oder steigern sich in die reine Empfindung hinein wie die Schüler Sankarans[16] oder Sehgals[14]. Ein weiterer Kreis hofft auf neue, unbekannte, exotische Mittel wie die Lanthaniden oder Elemente tierischer Herkunft, nach einer Signaturen-Lehre bestimmt. So waren die Milcharzneien lange beliebt, später kamen Spinnen-, Schlangen- und Vogelarzneien auf den Markt u.v.a.m.. Auch die Miasmatik wurde bemüht auf der Suche nach einem besseren Behandlungsweg nach den Lehren JH Allens[2], Ortegas[15] oder Masi-Elisaldes, aber auch Gienows[7,8] oder Sonnenschmidts[19]. Computer-Repertorisation, Experten-Programme oder Polaritätsanalyse gesellten sich hinzu als Instrumente der Erleichterung und Verfeinerung.
Es wäre einmal interessant zu erforschen, wie erfolgreich erfahrene Homöopathen mit ihren unterschiedlichen Herangehensweisen wirken anhand einiger Standard-Erkrankungen wie Neurodermitis, Allergien, Migräne oder Angststörungen (wobei zu bedenken ist, dass gerade wir Homöopathen auch viele andere Aufgaben gestellt bekommen, die nicht unbedingt einer konkreten Diagnose zuzuordnen sind etwa wie Infektanfälligkeit oder Erschöpfungszustände). WissHom könnte da doch mal eine orientierende Umfrage starten – wenngleich die subjektive oder vielleicht auch geschönte Auskunft einer wissenschaftlichen Aussage entgegensteht.
Mein eigener Weg führte zu den mineralischen Salzen, die mir bessere Erfolge ermöglichten als deren einzelne Elemente oder die bekannten Polychreste. Und ich stellte fest, dass ich hiermit in die Fußstapfen Kents, aber auch Schüßlers trat. Offenbar fanden sich die Homöopathen Ende des 19. Jahrhunderts ebenso wie in der Gegenwart in der Verlegenheit, dass die Behandlung chronischer Fälle, so wie uns Hahnemann geheißen hat, unbefriedigend verlief. Sicher war der Umschwung weg von den überwiegend pflanzlichen Arzneien, deren toxische Wirkung wohlbekannt und deren Simile-Charakter leicht zu erfassen ist, zu den eher mineralischen Quellen, wie ihn Hahnemann mit seinen „Chronischen Krankheiten“ vollzog[9], deren therapeutisches Potenzial oft erst durch das Dynamisieren erkennbar wird (man denke an Calcium carbonicum, Silicea oder Natrium muriaticum!) ein wichtiger Schritt – ich möchte von einer zweiten Ebene oder Entwicklungsstufe der Homöopathie sprechen. Die damit einhergehende Empfehlung häufiger Mittelwechsel verstehe ich aber eher als eine Verlegenheitslösung („ ... ist der Schwefel allein – so wenig als ein einzelnes andres, antipsorisches Mittel – zur vollkommnen Heilung gewöhnlich nicht mehr zureichend, und die übrigen antipsorischen Arzneien müssen, ja nach den übrigen Symptomen diese, oder jene, homöopathisch zu Hülfe genommen werden“[9])
Auch die kompletten Salze, auch kombinierte Arzneimittel genannt, werden in der Gegenwartshomöopathie von einigen Meistern hofiert, so etwa von Jan Scholten[17], der mit ihren Einzelbestandteilen subtile psychische Elemente verbindet; oder von Rajan Sankaran[16], der dem Gesamtsalz ein spezifische Empfindung aneignet. In gleicher Richtung versucht auch Wolfgang Springer jedem dieser Salze ein ganz eigenes Charakteristikum zuzuschreiben[20].
Schüßler[18] führte einige dieser Salze in die Homöopathie ein. Er erdachte sie aufgrund theoretischer Überlegungen; da er aber keine Arzneimittelprüfungen damit vornahm, fand er in der klassischen Homöopathie keinen großen Anklang. Kent allerdings schätzte seine Arzneien sehr, die in tiefen wie in hohen Potenzen große Wirkungen entfalten. In seiner Arzneimittellehre[11] räumt er ihnen breiten Raum ein, wesentlich mehr als andere Autoren dieser Zeit, etwa JH Clarke[5]. Und er ergänzte dieses Arsenal um einige weitere Salze (neben anderen Arzneien), die in seinem posthum erschienen Band Neue Arzneimittel der homöopathischen Materia medica beschrieben sind[10].
Transparente, runde Portraits, wie wir es von unseren Polychresten kennen, wie Kent es allen anderen Mitteln, über die er referierte, zuweisen konnte, gehen aus diesem Werk allerdings nicht hervor; es ist eine nüchterne Auflistung von Details, allenfalls zum Nachschlagen geeignet. Auch Kent hat diese Arzneien vermutlich nicht geprüft, sondern sich ihr Arzneimittelbild aus ihren Einzelkomponenten zusammengeschrieben (Rainer Wilbrand und Heike Kron haben darüber berichtet[11,12]).
Mein Weg wurde es, diese Salze unbekümmert aus ihren Einzelkomponenten zusammen zu führen, dabei deren Keynotes, aber auch prägnante Lokalsymptome als wegweisend zu nehmen, allerdings auch aufgrund miasmatischer Überlegungen zu wählen. In dieser Hinsicht stütze ich mich auf einen gleichfalls vor über hundert Jahren wirkenden Homöopathen, JC Burnett nämlich[4], aber auch auf die jüngere Literatur von Yves Laborde und Gerhard Risch[13].
So sagt Hahnemann einerseits sinngemäß: „Das haben wir ja schon die ganze Zeit so gemacht, indem wir zum Beispiel Quecksilber und Schwefel als Quecksilbersulfid, nämlich Zinnober verabreicht haben.“ Und andererseits: „Einzelne zusammengesetzte (complizirte) Krankheitsfälle gibt es, in welchen das Verabreichen eines Doppelmittels ganz homöopathisch und echt rationell ist; wenn nämlich jedes von den zwei Arzneimitteln dem Krankheitsfalle homöopathisch angemessen erscheint, jedes jedoch von einer anderen Seite; oder wenn der Krankheitsfall auf mehr als einer der von mir aufgefundenen drei Grundursachen chronischer Leiden beruht, und außer der Psora auch Syphilis und Sykosis mit im Spiel sind. So kann ich bei chronischen Leiden zwei von verschiedenen Seiten wirkende Mittel ... zusammen verabreichen.“ (Zitat Hahnemann, widergegeben von Arthur Lutze, aus Otto Weingärtner: Homöopathische Kombinationsarzneimittel[27]).
Allerdings rückte Hahnemann später von dieser „gräulichen Ketzerei“ wieder ab. Die Ablehnung des Kombinierens hat also in der Homöopathie eine gute Tradition. Aber aus dem Wissen um unsere hereditären miasmatischen Krankheitsursachen leite ich dennoch eine theoretische Begründung für den Nutzen dieser Salze ab, deren Einsatz für mich trotz Hahnemanns Verdikt zum Standard geworden ist und die ich als die dritte Ebene oder Entwicklungsstufe der Homöopathie bezeichnen möchte.
Meine Theorie geht dahin zu vermuten, dass zum Zustandekommen einer bedeutenderen Pathologie möglicherweise das Zusammenwirken mehrerer Miasmen förderlich ist, somit jedes der in einer Kombination vertretenen Mittel unterschiedliche Krankheitsquellen beantwortet – womit wir wieder bei Hahnemanns Überlegungen angekommen wären. Unser Altmeister wollte sich halt nicht dem Vorwurf der Vielmischerei aussetzen, gegen die gerade er vehement wetterte.
Ein reduziertes Miasmensystem erlaubt mir allerdings auch eine einfache, überschaubare Zuordnung unserer großen Mineralien oder Metalle, was mir einen leichten Umgang mit dieser Art zu arbeiten ermöglicht – somit ist also dies mein Weg der Behandlung chronischer Krankheiten geworden. Ob er Allgemeingültigkeit erlangen kann, das müssen andere entscheiden.
Tabelle 1 zeigt nun die Salze, die von Schüßler eingeführt wurden inclusive der Ergänzungsmittel seiner Nachfolger; ferner jene aus Kents Nachlass. Eine weitere Auflistung enthält diejenigen Salze, die sich mir darüber hinaus als nützlich erwiesen haben, deren Urheberschaft ich aber nicht ermitteln konnte. Weder Magister Robert Müntz, Inhaber von Remedia, noch die Firma Ainsworth aus London, welche beide solche Raritäten bereithalten, konnten mir Auskunft erteilen. Ihre Quelle vermute ich in der Generation von Kent. Eine Vielzahl weiterer Salze, wohl aus eben dieser Zeit, mit denen ich aber nichts anzufangen weiß, lassen mich eine große Experimentierfreudigkeit vermuten – der Grund? Siehe oben!
Will Klunker schreibt im Geleitwort zum Buch Neue Arzneimittel...: „Die Mehrzahl dieser verdient unsere besondere Aufmerksamkeit, weil sie aufgrund ihres mineralischen Charakters zu großen Mitteln der Behandlung tiefgewurzelten chronischen Krankseins werden können.“
Ich behandelte ihn schon über ein Jahr, bevor ich Stephan W., heute 51 Jahre alt, erstmals persönlich kennenlernte. Seine Schwester hatte mich Ende 2011 um homöopathische Hilfe gebeten, da sie mit seiner motorischen Unruhe und seinem lauten Auftreten nicht fertig wurde. Von schwerer geistiger Behinderung betroffen, steht er unter der Obhut der Lebenshilfe. Als zweites von drei Kindern hatte er sich zunächst unauffällig entwickelt, dann aber, irgendwann in den ersten Lebensjahren, stagnierte seine Reifung und, soweit ich erfuhr, blieb die Sprachentwicklung völlig aus. Eine Impfung als Ursache möchte ich nicht ausschließen, sorgte doch die damals noch gängige Pockenimpfung, wie man sagt, für reichlich Nachschub bei der Lebenshilfe.
Seine Mutter mochte ihn nicht, sie war auch mit ihrer Landwirtschaft ausgelastet; seine ältere Schwester fürchtete ihn, da er motorisch sehr agil und zudem laut und auch aggressiv war. So blieb es der jüngsten Tochter, 3 Jahre jünger als er, überlassen, Fürsorge für ihren Bruder zu üben, was sie bis jetzt leistet (über sie und ihre Tochter habe ich einen Aufsatz geschrieben unter dem Titel Ein Hirntumor oder die Bürde der Verantwortung[25]).
Nach dem Tod seines Vaters, an dem er sehr hing und der, wie vermutlich auch sein Großvater, an Amyotropher Lateralsklerose (ALS) verstarb, wurde er besonders aggressiv und laut. Er hat einen großen Bewegungsdrang und Laufen tut ihm sehr gut. Er sei wie ein Vögelchen, eingesperrt in einen Käfig, sagt seine Schwester, und stehe immer unter Strom, und in seinem Wohnheim beklagt man sich über unruhige Nächte. Bei Schmerz und Kummer zieht er sich völlig zurück, Musik jedoch berührt ihn sehr und lässt ihn weinen, aber auch vor Freude hüpfen und klatschen. Er spricht nicht, sondern gibt nur animalische Laute von sich. Auffallend war auch noch ein häufiger Harndrang.
Der Autismus, seine ausgebliebene Sprachentwicklung gaben mir Hinweise auf ein Natrium-Salz bzw. auf Thuja, welche sich in vielen Punkten gleichen und schlüssig ergänzen. In dieselbe Richtung verweist der Rückzug bei Schmerz und Kummer und das Weinen bei Musik. Sogar der – nicht bewiesene – Impfschaden würde Thuja und damit diese Richtung bestätigen. Da ich von einem neurologischen Schaden ausging und das Erbe von Vater und Großvater bedachte, ALS nämlich, suchte ich zunächst eine Kombination mit einem Antisyphilitikum. Mercurius chloratus natronatus bot sich an, da der Quecksilberanteil den Impuls zu Gewalttätigkeit abdeckt.
In C200 gegeben (12/2011; 01/2012; zwischendurch Thuja C200, jeweils DHU), beschwichtigte diese Arznei seine Unruhe und Umtriebigkeit für eine Weile, um schließlich zu versagen. Dann versuchte ich mich mit Natrium arsenicosum, ebenso eine Verknüpfung mit der Syphilinie nach meiner Auffassung, auch durch das Element der Ruhelosigkeit gerechtfertigt. Unruhe, Schlafstörungen, Harndrang beruhigten sich immer wieder ein Stück weit, aber die Wirkung war nicht ganz überzeugend (02/2012; 03/2012; 07/2012; 10/2012 – jeweils in C200 DHU; 01/2013 in LMK Remedia)
Anfang 2013 kam es nun endlich zu einer Begegnung; die Schwester, die bisher immer nur über ihn berichtete hatte, brachte ihn mit in die Praxis und ich konnte ihn persönlich in Augenschein nehmen. Und ich kann nur jedem Homöopathen empfehlen, die körperliche Untersuchung nicht zu vernachlässigen, denn aus ihr gewinnt man nicht selten die entscheidenden Allgemeinsymptome. So war ich zwar über seinen schlechten Zahnstatus informiert, erkannte aber jetzt erst deutlich das Ausmaß seiner Zahnfehlstellungen. Ferner sah ich ein zierliches, knochiges Männlein mit einem stark deformierten Brustkorb, erkannte seine Schweißneigung und auch seine Pickel auf der Haut, gleichwohl auch die offenen Mundwinkel.
In Zusammenschau mit seinem Lauftrieb und seiner Aggressivität, sobald gereizt, gab mir dieses Bild einen deutlichen Hinweis auf das Walten des tuberkulinischen Miasmas und konkret auf das Arzneimittelbild von Silicea.
Kombiniert mit den schon geschilderten Natrium-Elementen wurde nun Natrium silicicum die Arznei, inauguriert von Kent, die ihm nun seit Februar 2013 durchgehend bis heute hilft – allerdings mit häufiger Interposition von Tuberculinum (Nat-sil. C200 DHU, bisher 4 Gaben, danach 5 Gaben in LMK Remedia, bis zuletzt im August 2015; Tub. bov. C200 DHU, bisher 6 Gaben). Tuberculinum erwies sich dann als notwendig und wirkungsvoll, wenn hin und wieder Natrium silicicum nicht durchgreifend genug wirkte. Der Abstand, indem sich die Schwester meldet und Nachschub anfordert, variiert zwischen 2 und 5 Monaten. Das Ergebnis ist Ruhe, Frieden, Harmonie, gute Führbarkeit, Zufriedenheit, weniger Harndrang und ein guter Schlaf, aber auch eine Beschwichtigung seiner sexuellen Erregbarkeit, für die er in seinem Status halt keine Abfuhr erfährt.
In Tabelle 2 habe ich einige Diagnosen aufgelistet, bei denen mir dieses Salz nützlich war.
"Wo werden Sie Ihren Sommerurlaub verbringen?", wollte ich wissen. "In Florida", antwortete sie. Claudia S., 31 Jahre alt, stand schon ein halbes Jahr in meiner Behandlung, sie war an Multipler Sklerose erkrankt[1]. Ein erster Schub dreieinhalb Jahre zuvor bescherte ihr Sensibilitätsstörungen der linken Körperseite, nun gab es einen zweiten Schub mit Gefühlsstörungen der rechten Seite und einer vorübergehenden Lähmung des rechten Gesichtsnervs, was sie veranlasste, sich in homöopathische Behandlung zu begeben. Die Schulmedizin hatte sie auf die Injektion mit Rebif® eingestellt, einem Interferon-Präparat (Kosten pro Jahr 20.000 €, wie alle Immuntherapeutika dieser Art meines Erachtens aber bei der MS fast völlig wirkungslos).
Meine erste Frage bei MS-Schüben gilt irgendwelchen Stressfaktoren als mögliche auslösende Ursache. Sie fühlte sich aber wohl in ihrem Beruf, obwohl sie, als Krankenschwester, Nachtdienste leisten musste. Zwei Jahre vor unserem ersten Kontakt allerdings war ihr Vater gestorben, dessen Hausstand sie und ihr Bruder aufzulösen hatten. Ihre Eltern hatten sich getrennt, als sie 12 Jahre alt war, und sie lebte danach auf ihren eigenen Wunsch bei ihrem Vater. Zur Mutter besteht aber kein schlechtes Verhältnis; diese begleitet sie immer bei ihren Arztbesuchen. Wenige Wochen vor Ausbruch des letzten Schubes hatte sie einen neuen Freund gefunden, der trotz der Erkrankung fest zu ihr hielt. Drei Jahre vorher war eine Beziehung zu Ende gegangen; die Schuld für das Scheitern suchte sie bei sich.
Ein paar Hinweise gab es für Silicea: Eine schlechte Zahnsubstanz mit guter Neigung zu Karies sowie zu Zahnwurzelabszessen und eine gewisse Reizbarkeit (Heftig wenn geärgert: Silicea). Vor allem aber ihre Erscheinung wies in diese Richtung: Sie ist eine kleine, zierliche Person mit einem sehr korrekten, strengen Äußeren. So trägt sie ihr Haar sorgfältig geflochten, hat eine aufrechte Haltung wie eine Balletttänzerin, achtet auf eine stimmige Kleidung und ist auch sonst auf Kleinigkeiten bedacht, was sie sich selbst als Charakterzug zuschrieb.
Im Falle einer Encephalomyelitis disseminata erlaubt das Ausbleiben von Rückfällen noch lange kein Urteil über die Richtigkeit der homöopathischen Arzneimittelwahl. Begleitende Symptome sind entscheidend, um den Verlauf bewerten zu können. Neben einem praemenstruellen Brustspannen hatte sie ein weiteres, bedeutendes Symptom, nämlich chronisch offene Mundwinkel. Da ihr Erscheinungsbild von den körperlichen Symptomen bis zu den charakterlichen Merkmalen für Silicea sprach, andererseits aber einige Details für Natrium muriaticum, wie z. B. eine Milchunverträglichkeit, begann ich ihre Behandlung mit Natrium silicicum. Doch der Fortschritt war gering, es änderte sich zunächst nicht viel an ihrem Befinden (gegeben zwischen 09/2009 und 08/2010 einmal in C30 DHU, zweimal in C200 DHU und viermal im LMK Remedia).
"Was zieht Sie nach Florida", war meine weitere Frage. "Dort gibt es die größten Achterbahnen der Welt, und ich reise überall hin, wo große Achterbahnen stehen".
Was bedeutet nun diese Aussage für den Homöopathen? Suche nach Grenzerfahrung, war meine Interpretation, und lenkte mich zu Carcinosinum. Hatte sie denn sonst Hinweise auf das karzinogene Miasma? Die Schuldgefühle etwa nach der Trennung von einem früheren Freund? Aber möglicherweise auch, und das wurde mir erst jetzt bewusst, die Position innerhalb ihrer Familie: Sie zog nach der Trennung der Eltern zu ihrem Vater, übernahm vielleicht dort nicht nur Verantwortung für ihn, sondern auch gewissermaßen die Rolle der Ehefrau, beides nicht angebracht für ein junges Mädchen.
Über die Prägung durch biographische Erfahrungen habe ich in der "Homöopathie aktuell", Ausgabe 4/2010, einen Aufsatz geschrieben unter dem Titel "Carcinosin und die Kali-Salze"[22] (auch nachzulesen unter www.ernst-trebin.de). Darin beschreibe ich die Auswirkungen vorzeitiger und unangemessener Verantwortungsübernahme durch junge Menschen auf die spätere Entwicklung, formuliere darin Gründe für die Etablierung des karzinogenen Miasmas und für die Rolle der Kalium-Salze in dieser Lebenskonstruktion.
So fiel meine Entscheidung für das weitere Vorgehen bei Claudia S. auf Kalium silicicum. Und tatsächlich heilten alle bestehenden Probleme schrittweise unter dieser Medikation aus: Die Mundwinkel kamen zur Ruhe, ebenso das Brustspannen, und das ganze Befinden stabilisierte sich, MS-Erscheinungen traten nicht mehr auf, Kontrolluntersuchungen konnten keine weiteren Herde nachweisen. Und auch jetzt, nach insgesamt 5 Jahren Behandlung mit diesem Mineral sowie nach einer Schwangerschaft, ist sie in jeder Hinsicht stabil (ab 10/2010 zweimal in C200 DHU, seither bis zuletzt im August 2015 19 mal in LMK Remedia; intermittierend dreimal Carcinosinum 58T C200 Remedia, zweimal Carcinosinum C1000 DHU, einmal Tuberculinum bovinum C200 DHU – die Nosoden wurden rein routinemäßig gegeben ohne eine spezifische Indikation.)
Nur eine kurze Fallskizze, da eine ausgiebigere Anamnese und Verlaufsbeschreibung hier nicht vorgesehen ist:
Ein Junge, heute 15 Jahre als, kam wegen eines Asthma bronchiale in meine Praxis. Wie im ersten Fall dieses Aufsatzes, waren auch hier ein knochiger Körperbau zu sehen und ein auffallend kantiges Gesicht. Dies und andere Hinweise ließen mich an Silicea denken, gegeben aber zunächst als Natrium silicicum (07/2009 und 09/2009 in C200 DHU; später in LMK Remedia 13 mal bis 04/2012). Es änderte sich nicht viel, bis ich auf eingehendes Nachfragen erfuhr, dass die Atemnot sich auf das Einatmen bezog. Hier findet sich Kalium carbonicum (wobei überhaupt ein häufig erlebtes Charakteristikum der Kali-Salze eine Art Kompression des Thorax ist – „als säße etwas auf der Brust“, sagte jüngst eine Patientin. Die Folge sind das Bedürfnis nach tiefen Atemzügen, aber auch Atemaussetzer tagsüber ebenso wie im Schlaf).
Mit Kalium silicicum konnte ich sein Asthma schließlich bereinigen (ab 07/2012 einmal in C200 DHU, danach 9 Gaben in LMK Remedia, zuletzt im Juli 2015) – seit Mai 2013 gab es keine Atemnotszustände mehr, die Medikation wurde wegen banaleren Angelegenheiten, wie Kopfschmerzen oder leichter grippaler Infekte, weiter verabreicht . Da ich die Kali-Salze aber dem karzinogenen Miasma zuschreibe, suchte ich in seinem Falle nach einer Begründung. Ich vermute sie in einem Familiengeheimnis, nämlich der ungeklärten Herkunft seiner Großmutter. Offenbar liegen hier irgendwelche Leichen im Keller•
Viele unerlöste Traumata finden sich allerdings auch in der Familien-Historie von Frau Gerda K., heute 62 Jahre alt. Sie kam vor 12 Monaten wegen nächtlicher Panikattacken zu mir. Zwei Jahre litt sie schon unter diesen Anfällen, bei denen sie sich dem Tode sehr nahe fühlte. Nicht nur Bauchkrämpfe gesellten sich schließlich hinzu, sondern auch Erbrechen und Durchfälle. Für mich war rasch klar, dass ihr Zustand dem Bild von Arsenicum album entsprach, und die Tatsache, dass ihre Mutter an einer Sepsis nach einer Knieoperation verstorben war, bestätigte mir diese Vermutung der ererbten konstitutionellen Veranlagung (Ars. ist sicher in den meisten intensivmedizinisch betreuten Fällen von Sepsis indiziert – und auch hilfreich, wie nicht nur ich erfahren durfte, sondern auch Frass und Bündner in ihrem Fachbuch aufzeigen[6]). Auch der Drang, sich von der Brücke zu stürzen, den sie empfand, als sie in einer früheren Partnerschaft regelmäßig betrogen wurde, legten diese Arznei nahe.
Ich begann die Behandlung mit Natrium arsenicosum, was sich mir wirklich mehrfach als ein großartiges Mittel bei Panikzuständen und Angststörungen bewährt hat, erreichte damit aber keine Besserung. Als ich meine Aufzeichnungen erneut durchsah, wurden mir nicht nur ein starkes Pflichtgefühl und ein ausgeprägter Altruismus bei meiner Patientin bewusst, sondern fand ich auch weitere Gründe für das Vorherrschen des karzinogenen Miasmas in ihrer Familiengeschichte. Ihre mütterliche Linie wies einige Krebsfälle auf und ihr Vater war stark traumatisiert. Nicht nur der 2. Weltkrieg hatte ihn sehr geprägt – er ist wohl regelmäßig nachts schreiend aus Alpträumen erwacht –, er selbst musste schon als Kind harte Arbeit verrichten und wurde regelmäßig geschlagen. (Auf die Arbeiten von C Abermann und PJ Schmitz über Carcinosinum sei hier auch hingewiesen – beide sehr lesenswert![1,21])
Ich wechselte nun zu Kalium arsenicosum, obwohl diese Arznei in der Repertorisation fast vollständig fehlt und auch Kalium carbonicum nicht auffallend häufig vertreten ist. Aber die von mir favorisierte Zuordnung der Kali-Salze zum Miasma der Karzinogenie legte mir diese Kombination nahe. Und damit, gegeben zunächst in C200 und später in LMK, konnte ich sie binnen eines halben Jahres gut stabilisieren. Freilich erhält sie dieses Arznei vorläufig auch weiterhin, mit interponierten Gaben von Carcinosinum C200, denn bis zur wirklichen Ausheilung solcher Veranlagungen braucht es meist einige Jahre.
(Kalium arsenicosum C200 DHU wurde erstmals im November 2014 gegeben, danach dreimal wiederholt, später erhielt die Patientin die Arznei in LMK Remedia weitere zweimal; Carcinosinum 58T C200 Remedia wurde dreimal verordnet. Die letzte Gabe einer homöopathischen Arznei war Natrium phosphoricum C200 DHU Anfang Oktober 2015; die Panikattacken waren längst nicht mehr aufgetreten, aber harmlosere somatische Störungen legten die Verschränkung mit einer ergänzenden Behandlungslinie nahe. Über diese von mir seit einiger Zeit recht erfolgreich gehandhabte duale Behandlungsstruktur in komplexen Fällen wird an anderer Stelle zu berichten sein.)
Bamberg, im September 2015
Veröffentlicht in der Allgemeinen Homöopathischen Zeitung 2/2016
Mit freundlicher Genehmigung des Haug-Verlags
Einige erfahrene Homöopathen, Klunker oder Künzli etwa, haben stets den besonderen Wert der Arzneien mineralischer oder metallischer Herkunft für die Behandlung chronischer Krankheitsfälle gepriesen, aber meine eigener Weg wurde es, erst mit den daraus kombinierten Salzen wirklich nachhaltige Erfolge einzufahren. Und hierfür haben uns nicht nur Schüßler, sondern nach ihm auch Kent und andere Homöopathen seiner Generation wichtige Arzneien hinterlassen.
[1] Über diesen Fall habe ich schon einmal in der Homöopathie aktuell berichtet[26]
[1] Abermann C. Carcinosinum – ein immer noch unterschätztes Polychrest. ZKH 2010; 54 (3): 117-131.
[2] Allen J.H. Die chronischen Miasmen. Nendeln: Barthel & Barthel; 2000.
[3] Barthel H. Synthetisches Repertorium. Heidelberg: Haug; 1987.
[4] Burnett J.C. Die Heilbarkeit von Tumoren durch Arzneimittel. München: Müller & Steinicke; 1991.
[5] Clarke JH. Der Neue Clarke. Bielefeld: Stefanovic; 1996.
[6] Frass M., Bündner M. Homöopathie in der Intensiv- und Notfallmedizin. München: Elsevier; 2007.
[7] Gienow P. Homöopathische Miasmen: Die Psora. Stuttgart: Johannes Sonntag Verlag; 2000.
[8] Gienow P. Homöopathische Miasmen: Die Sykose. Stuttgart: Johannes Sonntag Verlag; 2003.
[9] Hahnemann S. Chronische Krankheiten. Heidelberg: Haug; 1999.
[10] Kent JT. Neue Arzneimittelbilder der homöopathischen Materia Medica. Heidelberg: Haug; 1997.
[11] Kent JT. Homöopathische Arzneimittelbilder (neu übersetzt von Rainer Wilbrand). Stuttgart: Haug; 1986.
[12] Kron H. Der „andere“ Kent. ZKH 2015; 59 (1): 25-32.
[13] Laborde Y., Risch G. Die hereditären chronischen Krankheiten. München: Müller & Steinicke; 1998.
[14] Lang G., von Seckendorf E. Homöopathie, Einführung in die Theorie und Praxis der Sehgal-Methode. Bad Boll: Eva-Lang-Verlag; 2007.
[15] Ortega, P.S. Die Miasmenlehre Hahnemanns. Heidelberg: Haug; 2000.
[16] Sankaran R. Das Geistige Prinzip der Homöopathie. Mumbai, India: Medical publishers; 1995.
[17] Scholten J. Homöopathie und Minerale. Utrecht NL: Stitching Alonnissos; 1997.
[18] Schüßler WH. Eine abgekürzte Therapie. Oldenburg und Leipzig: Schulzesche Hofbuchhandlung; 1898.
[19] Sonnenschmidt R. Wege ganzheitlicher Heilung. Stuttgart: Haug; 2013.
[20] Springer W. Kombinierte Arzneimittel in der Homöopathie. Stuttgart: Haug; 2008.
[21] Schmitz PJ. Genialität und Irrsinn – ein Segen und ein Fluch: Carcinosinum. AHZ 2014; 259 (6): 21-26
[22] Trebin E. Carcinosin und die Kali-Salze. Homöopathie aktuell 4/2010: 8-10.*
[23] Trebin E. Miasmen und Minerale. ZKH 2003; 47: 80-89.
[24] Trebin E. Natrium silicicum und Kalium silicicum. AHZ 2005; 250: 77-84.*
[25] Trebin E. Ein Hirntumor oder die Bürde der Verantwortung. Homöopathie aktuell 4/2014.*
[26] Trebin E. Eine Vorliebe für Achterbahnen – oder sind wir nicht alle ein bisschen Kali? Homöopathie aktuell 4/2913.*
[27] Weingärtner O. Homöopathische Kombinationsarzneimittel. Essen: KVC-Verlag; 2007.
(* auch unter www.ernst-trebin.de)
JT Kent erwies sich als Freund von Mineralsalzen, auch als kombinierte Arzneien zu verstehen. Er schätzte den Fundus der Schüßlerschen Biochemie, fügte aber auch weitere Mittel dieser Art unserem Arzneimittelschatz hinzu. Einige dieser Salze werden anhand konkreter Fälle vorgestellt.
W Schüßler, JT Kent, Mineralsalze, kombinierte Arzneien, Natrium silicicum, Kalium silicicum, Kalium arsenicosum.
JT Kent proved to be friend of mineral salts, also to see as combined remedies. He appreciated the stock of Schüßlers biochemistry, but added himself some new remedies of this kind to our materia medica. Some of these salts are introduced along concrete patients histories.
W Schüßler, JT Kent, mineral salts, combined remedies, natrium silicicum, kalium silicicum, kalium arsenicosum.
Tabelle 1: Liste nützlicher Salze
Tabelle 2: Erfolge mit Natrium silicium