Sehr geehrter Kollege,
haben Sie herzlichen Dank für Ihr Schreiben; es freut mich, dass Sie meinen Erfahrungsbericht bestätigen können. Sie weisen mit Recht darauf hin, dass diese ganzheitliche Betrachtung menschlichen Leidens in der Lehre wie in der Ausübung unseres Berufes unverzeihlich vernachlässigt wird, sie macht aber aus meiner Sicht erst den Arzt aus. Die Reduktion ärztlichen Handelns auf lediglich ein Verwalten von Kranksein, auf Diagnosestellung und leitliniengerechtes Therapieren hat den Menschen als den eigentlich Betroffenen aus den Augen verloren.
Vor kurzem fand in Bamberg ein Symposium statt unter dem Titel Narrative Medizin, also über genau diese Thematik der sprechenden Medizin – auch unter dem Aspekt zunehmender, genauer gesagt schon weit fortgeschrittener Ökonomisierung in der Medizin. Knapp hundert anwesenden Kollegen brannte spürbar der Kummer auf der Seele, dass für die Wahrnehmung des Menschen als Patienten kein Spielraum mehr vorgesehen ist. Ich meinerseits arbeite seit 23 Jahren in Privatpraxis, kann mir noch Zeit nehmen und stehe nicht unter diesem elenden Druck wirtschaftlicher Art, der vom System der gesetzlichen Krankenkassen ausgeht. Ich bin damals aus dem Kassensystem ausgestiegen, weil mir die Kontrollgremien meine überdurchschnittlich zuwendungsintensive Patientenbetreuung zum Vorwurf gemacht haben mit entsprechenden wirtschaftlichen Sanktionen. Leider ist aber auch die privatärztliche Gebührenordnung (GOÄ) mittlerweile so verkommen, dass auch hier die sprechende Medizin wirtschaftlich am Rande des Zumutbaren angelangt ist.
Sie erwähnen aber auch, dass nicht alle Patienten gut darauf anzusprechen sind, wenn man deren Leiden mit biografischen Traumatisierungen in Zusammenhang stellt. Ich bin noch bewegt von dem Fall einer Patientin, die über das Internet auf mich aufmerksam wurde und wegen eines schweren, von Autoimmunprozessen geprägten Krankheitszustandes meine Hilfe suchte. Nach zunächst einer Fernberatung und -behandlung kam sie schließlich persönlich angereist mit ihrem verständnisvollen Ehemann.
Ich erfuhr aus ihrer Geschichte viel Arges: Sie war das jüngste von 5 Kindern, musste auf dem elterlichen Bauernhof aber ebenso hart mitarbeiten wie die großen Geschwister. Weil sie blond war, wurde sie von ihrer Mutter gehasst, denn dadurch erinnerte sie sie an ihre tyrannische Schwiegermutter. Nachts kamen zu ihr Brüder ins Bett und missbrauchten sie. Sie heiratete einen gewalttätigen Mann – und dessen böse Mutter.
Nachdem sie sich von all dem befreit hatte, begegnete sie ihrem neuen Partner, einem angenehmen, erfolgreichen und liebevollen Mann. Nun, nach ihrer Interpretation von einem kleinen Motorradunfall ausgelöst, wurde sie also schwer krank.
Ihr Leidensweg schien mir logisch und ich machte mich an die Arbeit mit meinen Mitteln, ohne ein rasches Ergebnis zu erwarten. Bald kam aber die Frage: was habe ich denn? Und wurde eine Antwort angeboten: Kann das vielleicht psychisch sein?
Wenn ich erst kurz mit einem Patienten vertraut bin, dränge ich ihm nicht meine Interpretationen auf, weil ich nicht unbedingt auf seine Einsicht in die von mir vermuteten Zusammenhänge setze, auch nicht auf die Fähigkeit und Bereitschaft, diese anzunehmen. Aber nachdem die Frage schon einmal gestellt war, lautete meine Entgegnung: Bei dieser Vorgeschichte wundert mich nicht, dass der Körper das nun gefundene Glück schwer annehmen könne.
Ich habe von dieser Patientin seither nichts mehr gehört, vielmehr suchte sie nun ihr Heil bei einem Heilpraktiker, der als die Quelle ihrer Leiden eine Mineralstoffwechselstörung heranzog. Recht hat er gehabt mit dieser Aussage, sie war weit besser zu akzeptieren als mein ungeschicktes Psychologisieren. Prof. Brix aus München nennt das Dissoziation, wenn nicht angenommen wird, was nicht annehmbar ist.
Dies ist der eine Grund, warum wir vorsichtig sein müssen mit unseren Äußerungen. Der andere Grund scheint mir, dass Kranksein für manchen Leidenden ein Weg ist, sich Aufmerksamkeit und Wahrnehmung zu erwirken, die ihm in wichtigen Zeiten seiner Entwicklung vorenthalten wurde.
Giovanni Maio, Lehrstuhlinhaber für Medizin-Ethik in Freiburg, den ich bei oben erwähntem Symposium sprach, trifft in seinem Buch Den kranken Menschen verstehen eine Aussage, die ich für die Quintessenz des ganzen Werkes halte:
Wir können bei einem Patienten alles Mögliche untersuchen, anordnen und behandeln und doch bleiben all diese Herangehensweisen fruchtlos, wenn sie nicht von Zuwendung begleitet sind. Denn all diese Verrichtungen können nicht vermitteln, worum es bei der Therapie geht: um die Zusicherung, dass die betreffende Person es wert ist, sich mit ihr zu beschäftigen.
Das klingt zunächst banal, beschreibt aber meines Erachtens das Dilemma genau, hat dennoch gar nichts mit Schuldzuweisung oder Vorhaltungen zu tun. Und so habe ich mir vorgenommen, manchem Patienten gegenüber mit Heilsversprechen eher vorsichtig zu sein, denn genau das könnte ihm bedrohlich vorkommen, könnte er doch um sein Instrument Krankheit, mit dem er als wertvoll erkannt und angenommen wird, beraubt werden. Schulmedizin gibt ihm dann wenigstens die Möglichkeit, an Nebenwirkungen zu leiden, allem voran bei der Krebstherapie. Oder noch radikaler gedacht: in seiner inneren Not wendet sich einer Therapie zu, die von vorneherein nicht das Potential zu einer Heilung hat.
Das alles trifft sicher nicht pauschal zu, darf auch nur mit größter Zurückhaltung gedacht oder geäußert werden, und soll keinerlei moralische Wertung beinhalten. Mit solchen Einblicken stehen wir in starker Opposition zum vorherrschenden Maschinenmodell des Menschen, welches hartnäckig leugnet und verdrängt, dass es so etwas wie eine ärztliche Kunst gibt.
Bamberg, im Februar 2020
Ergänzung: Es ist natürlich nicht richtig, anhand solcher Spekulationen den Menschen selbst für sein Leiden verantwortlich zu machen oder ihm reine Zuwendungserheischung zu unterstellen. Vielmehr scheint mir das „Samenkorn“ seiner Existenz – Hahnemann nannte das die Lebensenergie – so beschädigt zu sein, dass ein unbeschwertes Leben nicht vorgesehen ist. Welche Not aber auch immer hinter dem Kranksein steht, es bleibt meine Aufgabe zu helfen. Als Entschuldigung für ein Nicht-Gelingen lasse ich solche Mutmaßungen nicht zu, sie können meine Motivation nicht bremsen, meinen ehrlichen Umgang mit dem Patienten nicht untergraben.
Solche Schicksale sind natürlich eine breite Indikation für Carcinosinum, aber ich fürchte, selbst die beste Therapie wird manche dieser Leiden nicht beseitigen, es wird eine lebenslange Begleitung sinnvoll sein, die wenigstens den Patienten in einem stabilen Zustand hält. Aber auch das ist die Mühe schon wert.
Bamberg, im Mai 2024