Anita war wirklich grün im Gesicht. Über Monate fiel an ihr diese ungesunde Farbe auf, obwohl nach aller medizinischen Erkenntnis kein Gallenstau vorlag. Sie sah faltig und verhärmt aus und wirkte mit ihren knapp 60 Jahren alles andere als attraktiv. Nach längerer Latenz war sie im Herbst 2010 wieder in meiner Praxis erschienen, erschrocken über eine flüchtige Blindheit, derentwegen sie kurzzeitig in der Augenklinik aufgenommen worden war. Dort konnte man allerdings keine ernsthafte Diagnose erheben, ein Gefäßverschluss war ausgeschlossen. Aber nicht nur die Augen versagten ihren Dienst, einiges war in ihrem Befinden aus den Fugen geraten. So war der Blutdruck massiv erhöht, ferner das Cholesterin und die Triglyzeride im Blut, und vor allem aber das Enzym Creatinkinase, was eine schwere Muskelerkrankung befürchten ließ. Auch die Schilddrüse spielte verrückt, das TSH (Thyreoidea-stimulierendes Hormon) war massiv erhöht. Diese Veränderungen wurden über lange Zeit beobachtet, auch die flüchtige Blindheit wiederholte sich noch einmal. Die beobachteten Abweichungen von den gesunden Normwerten konnten aber mit keiner sinnvollen Diagnose unterlegt werden.
Was war geschehen? Ein guter Freund war vor kurzem gestorben, was den ganzen Bekanntenkreis erschüttert hatte. Die Blindheit von Anita trat exakt an seinem Geburtstag auf. Ferner war sie enorm überlastet, weil sie sich um vier alte pflegebedürftige Verwandte kümmerte. Und schließlich hinterließ auch ihre Arbeit in einem Pflegeberuf ihre Spuren. Sie konnte ihr nur mehr mit stark verminderter Kraft nachgehen, für einige Zeit wurde sie auch arbeitsunfähig erklärt.
Anita war schon vorher in meiner homöopathischen Behandlung gewesen und hatte sich zehn Jahre zuvor einer Anamnese unterzogen. Sie lebte solo, eine frühe Ehe währte nicht lange ebensowenig wie die nachfolgende Freundschaft mit einem schwierigen Partner. Konkret litt sie an Eiterungen einiger Zahnwurzeln und auch des Zahnfleisches, ferner erfuhren wir von einer erhöhten Empfindlichkeit gegen Sonnenhitze ebenso wie gegen nasskaltes Wetter, wir erfuhren von einem gesteigerten Salzbedarf und von einer deutlichen Neigung zur Warzenbildung. Über ihre Wesensart befragt räumte sie ein, dass sie beim Erzählen traurig-tragischer Inhalte lachen müsse.
Ich war schon früher bei ihr auf die homöopathische Arznei Aurum muriaticum natronatum gestoßen, einer salzartigen Verbindung von Gold mit Kochsalz. Das hatte in den Jahren zuvor die Erkrankungen im Zahnbereich schön beruhigt und wurde nun, nach längerer Pause, veranlasst durch die nun erlebten Vorgänge und die auffallenden Stoffwechsel-Entgleisungen, wieder eingesetzt. Ergänzend gab ich ihr Ignatia. Es dauerte nun einige Wochen bis sie sich wieder stabilisierte, aber nach drei Monaten sah man doch gute Fortschritte und begannen die außergewöhnlichen Labor- Veränderungen sich zu normalisieren. Obwohl im Sommer 2011 ihr Vater, dem sie sich sehr verbunden fühlte, verstarb, gewann sie doch zunehmend an Gesundheit, und bei ihrem letzten Besuch im September 2011, also zehn Monate nach ihrem schweren Einbruch, machte sie einen enorm vitalen Eindruck, war sie kaum wiederzuerkennen. Die Haut schön rosig, die Falten unbedeutend, die Frisur gepflegt, kurzum ein blühendes Wesen, das mit der Erscheinung vom Jahr zuvor nicht zu vergleichen war.
Einige Details sprechen bei ihr gut für ein Natrium-Salz, so die Sonnenunverträglichkeit, das Salzverlangen, das Lachen über ernste Dinge, auch die Warzenbildung; andere Erscheinungen verweisen auf das syphilitische Miasma, vor allem die Probleme im Zahnfleisch und Zahnwurzelbereich. Und unter den antisyphilitischen Arzneien empfahl sich insbesondere ein Goldverbindung wegen der Sehstörungen. Folgerichtig fiel meine Wahl erneut auf Aurum muriaticum natronatum, der gute Verlauf bestätigte diese Entscheidung.
Hatte sich denn sonst etwas Wichtiges in ihrem Leben verändert, fragte ich sie, eine neue Liebe etwa (die ja in der Regel Wunder bewirken kann)? Sie verneinte und fügte hinzu, dass sie seit ihren gescheiterten Beziehungen große Hemmungen gegenüber Männern hätte eine Äußerung, die mir eine Bestätigung für den Natrium-Anteil in ihrer Konstitution lieferte.
Bei einer anderen Patientin bedurfte es erst einer kritischen Wende, bis ich ihr ebenfalls diese Arznei zuordnete. Regine, 59 Jahre alt, hatte viele Merkmale von Natrium muriaticum. Eine auffällige Herpes-Neigung, eine größere Sonnen-Empfindlichkeit, die Neigung zu Blasenentzündungen und vor allem eine hohe Furcht davor, seelische Verletzungen zu erleiden und Vertrauens-Missbrauch zu erleben. Auch konnte sie sehr nachtragend sein und vergaß niemals eine Kränkung. Natrium muriaticum half ihr auch immer ein Stück weiter, und dennoch erlebte sie vor einigen Jahren eine massive, plötzlich eingetretene Appendizitis, die umgehend nach dem Chirurgen verlangte. Nach dem Eingriff erholte sie sich schlecht und litt vor allen Dingen unter enormen Darmblutungen beim Stuhlgang, die bis zu einer spürbaren Blutarmut führten. Nach einer jahrelangen Behandlung mit Natrium muriaticum hätten diese Ereignisse nicht auftreten dürfen, hier manifestierte sich eine Unzulänglichkeit der Arzneimittelwahl. Die Blutungen aus dem Darm leiteten schließlich auch in ihrem Falle zur Gabe von Aurum muriaticum natronatum, auch eingedenk der Tatsache, dass auch sie in ihrer Kindheit erhebliche Entzündungszustände im Zahnwurzelbereich hatte, was als ein ernster Hinweis auf ein syphilitisches Miasma zu werten ist.
Auch Regine fand zügig zurück zu einer guten Gesundheit und Aurum muriaticum natronatum erwies sich eindeutig als die bessere Arznei. Ihr Herpes verschwand fast vollständig, ihre Stimmungslage gewann und, wenngleich sie sich charakterlich durchaus treu blieb, so fand sie über die Jahre hinweg zu viel mehr Freude am Leben, entwickelte eine angenehme Aktivität und legte ihr leicht depressiv eingefärbtes Phlegma ab, das sie in der Vergangenheit immer wieder der menschlichen Gesellschaft entfremdete und sie veranlasste, sich hinter Büchern zu verkriechen oder stundenlange einsame Spaziergänge zu machen.
Der Eindruck, den nach meiner bisherigen Beobachtung Patienten erzeugen, die mit diesem Arzneimittel gut versorgt werden, ist aber nicht düster. Vielmehr wirken sie alle sehr liebenswürdig, behutsam im Umgang, verständnisvoll und gefällig, scheinen durchaus von heiterer Natur zu sein. Die depressive, abweisende Art, die man gern mit Natrium muriaticum verbindet, fiel mir bei diesen Patienten nie auf, auch nicht der hohe Ehrgeiz und Leistungsanspruch oder die schwere Depression bis hin zu Suizid-Neigung von Aurum metallicum.
Gerade Hannah, jetzt 32 Jahre alt, wirkte immer so zugewandt, offen und fröhlich, dass ich sie ohne weiteres mit dem Bild assoziierte, das wir uns von Phosphor machen. Andererseits erhielt ihre Anamnese sehr viele Natrium-muriaticum-Symptome. Sie kam wegen einer schweren, sehr häufig auftretenden Migräne, die vor allem durch warmes Wetter oder Wetterwechsel zum Hochdruck ausgelöst wurde. Ich begann die Behandlung mit Natrium phosphoricum, löste dadurch aber mit jeder Gabe erneut Kopfschmerzen aus. Dann besann ich mich, dass zwar an einer Beteiligung von Nartrium muriaticum oder eines anderen Natrium-Salzes kein Zweifel wäre, wir es aber mit einer im Grunde schweren neurologischen Symptomatik zu tun hätten, somit der Gedanke an eine Arznei des syphilitischen Miasmas nahe liegen würde. Das Symptom ungleich weiter Pupillen verwies in diese Richtung. Aurum selbst trat bei der Auswertung ihrer Symptome kaum in den Vordergrund, dennoch wählte ich auch hier Aurum muriaticum natronatum. Seither haben wir ihre schwere Migräne unter Kontrolle. Die Behandlung mit dieser Arznei währt nun schon fünf Jahre, anfangs waren regelmäßige Gaben in Abständen von fünf bis acht Wochen erforderlich, zuletzt brauchte sie ihre Arzneien nur mehr im Abstand von ca. einem halben Jahr.
Aurum muriaticum natronatum wurde von dem Norweger Terje Wulfsberg in seinem Buch “Gold” ausführlich neben anderen Goldsalzen beschrieben. Das Mittel ist nicht immer leicht zu identifizieren, miasmatische Überlegungen geben oft den Ausschlag. Ich sehe darin eine sehr wertvolle Arznei, die aber unter den ärztlichen Homöopathen weniger bekannt und geschätzt ist, nach meiner Beobachtung jedoch den Heilpraktikern durchaus gut geläufig. Für mich ist es aber ein unverzichtbarer Schatz in unserer Materia medica.
Bamberg, im Oktober 2011
Veröffentlicht in der Homöopathie aktuell 1/2012