Wir Homöopathen sehen in unseren Praxen eher nicht die Fälle, die einer streng definierten schulmedizinischen Diagnose unterliegen. Diese finden sich bevorzugt beim Allopathen ein mit ihrem Hypertonus oder ihrem Diabetes, den es korrekt einzustellen gilt, und wofür die Schulmedizin auch ein geeignetes Handwerkszeug aufweist. Wir sehen eher die Fälle, die komplexer sind, deren Behandlung schwierig ist, weil die Medizin hierfür gar kein Rüstzeug mehr hat oder aber deren Therapien zu sehr mit Nebenwirkungen befrachtet sind. Das Fatigue-Syndrom gehört hierzu ebenso wie die Fibromyalgie, die chron. Migräne oder manche psychische Störung. Wir sind hierfür oft die letzte Instanz und müssen entsprechend kreativ handeln, da auch unsere Kochbücher nicht immer fertige Rezepte, sprich bewährte Indikationen aufweisen.
Und schließlich erleben wir oft genug Fälle mit einem diffusen Symptomenbild, die überhaupt keiner richtigen Diagnose unterzuordnen sind. Die Schulmedizin spricht gerne von Syndromen, wenn sich eine Kombination von Symptomen präsentiert, die nicht unmittelbar in einem pathognomonischen Zusammenhang untereinander stehen. Der Begriff Syndrom passt ganz gut auf unsere Arbeitsweise, denn auch wir Homöopathen suchen einzelne Bausteine wie ein Puzzle zusammenzufügen zu einem bestimmten Arzneimittelbild oder einer passenden therapeutischen Strategie.
In dem folgenden Fall dominierten erst unklare Lokalsymptome, bevor sich eine systemische Krankheitsveranlagung präsentierte, für die es eine Lösung zu finden galt. Die Darstellung solcher Fälle ist ebensowenig einfach, wie die Arbeit des Homöopathen, der sich in den Zustand erst hineinfinden und einen Lösungsweg suchen muss. So schwer dies didaktisch auch darzustellen ist, so wichtig ist es, aufzuzeigen, wie sich solche Wege entfalten. Und mir ist es ein Anliegen, darzustellen, dass es selten das einfache, durchschlagende Wundermittel gibt, sondern dass es mir sinnvoll erscheint, mit den von mir und für mich erarbeitenden Arbeitsstrukturen zu einem letztlich befriedigenden, wenn auch mit Geduld erarbeiteten Ergebnis zu kommen.
Die Patientin ist mir seit Jahrzehnten bekannt, sie fand sich sporadisch ein für gerade anstehende akute Erkrankungen. Im Juli 2020, damals 57 Jahre alt, belastete sie aber ein ernsthaftes Ereignis. Seit zwei Wochen spüre sie eine Entzündung der linken Kleinzehe, der Schmerz habe übergegriffen auf den Mittelfußbereich und später auf das ganze Bein bis hinauf zum Oberschenkel. Ich vermutete eine Gichtarthritis und gab wegen des aufsteigenden Schmerzcharakters Ledum C200, jedoch ohne Erfolg. Drei Tage später: Das Bein fühle sich an wie von einem Ischiasschmerz betroffen, schlimmer abends und vor allem in der Nacht, im Liegen wie im Sitzen; sie müsse auf und ab laufen. Der Fuß, so schilderte sie mir am Telefon, sei dick und rot, eine neurologische Untersuchung habe nichts erbracht, sie brauche Schmerzmittel.
Auf der Suche nach einer Ursache erwähnte sie viel Ärger in der letzten Zeit und ich gab Colocynthis in C200. Fünf Tage später: Der Schmerz sei etwas entschärft durch Pregabalin, einem Antikonvulsivum zur Behandlung neuropathischer Schmerzen. Schwellung, Rötung und eine Abschuppung würden fortbestehen. Eine innere Unruhe beklagte sie, erleichtert durch Bewegung; ich gab Rhus toxicodendron. C200. Die nächsten Tage: die innere Unruhe habe sich etwas gelegt, sie verspüre ein Bedürfnis nach Wärme; Schwellung und Rötung unverändert, vor allem die Nacht sei vom Schmerz geprägt. Ich gab Syphillinum C200.
So ging das noch ein paar Tage, bis ein Borreliose-Test positive IgM-Antikörper ergab und von den mitbehandelnden Kollegen Doxycyclin angesetzt wurde. Ein Zeckenstich oder eine Wanderröte waren allerdings nie zu erkennen gewesen und ein fortbestehender IgM-Titer ist bei Borreliose-Verdacht nicht zu verwerten. Die weitere Borreliose-Serologie erbrachte auch keine Erkenntnisse, also weder Bestätigung noch Negierung einer möglichen Lyme-Arthritis.
Bis Anfang Oktober desselben Jahres ließen Schmerz und Entzündung allmählich nach, übrig blieb ein Taubheitsgefühl mit der Empfindung einer Einschnürung. Interessanterweise trat aber nun auch eine Taubheit der linken Hand auf sowie von Lippen und Zunge, gleichfalls linksseitig.
Da die Schmerzen im Fuß einen ausstrahlenden Charakter bekamen, setzte ich die Arbeit fort mit Kalium jodatum unter der Vermutung, dass sich nun eine periphere Neuropathie mit systemischer Ausbreitung manifestiert hätte. Die zweite Linie nach meiner eigenen Arbeitsweise, welche für die langfristige Therapie vor allem Salze heranzieht, insbesondere eine parallele Anwendung von Kalium- und Natrium-Salzen, fuhr ich mit Natrium sulfuricum fort, gab beide Arzneien im Laufe der Therapie mehrmals in C50.000K. Darunter bildete sich die Taubheit von Hand und Gesicht rasch zurück, die Taubheit im linken Fuß blieb noch etwas bestehen, aber andere Probleme im Bereich des Bewegungsapparates meldeten sich. So etwa eine Epicondylitis des rechten Ellenbogens, ein Schulterschmerz links, der sich über den Darm bis zum Daumen erstreckte sowie eine Reizung des rechten Iliosakralgelenks.
Über die Möglichkeit einer Borreliose (wobei 40 Tage Doxycylin nichts änderten) und einer Encephalomyelitis disseminata hinaus (ein MRT bestätigte dies nicht) verfestigte sich in mir nunmehr die Annahme einer peripheren Polyneuropathie, kombiniert mit einer Art von Fibromyalgie in Folge allgemein erhöhter Muskelspannungen. Belastende Situationen, die hierfür eine Erklärung liefern konnten, gab es in den letzten Jahren bei meiner Patientin genug.
Im April 2022, also gut fast zwei Jahre nach Beginn der Erkrankung, stieß ich auf Kalium bichromicum, das sich mir seither, um mit JH Clarke zu sprechen, als eines der wichtigsten Mitglieder der homöopathischen Materia medica erwies, woraufhin sich sowohl die ischialgiformen Schmerzen wie auch das Zusammenschnürungs-Gefühl sukzessive verloren.
Interessanterweise gingen dem Ausbruch dieser primären heftigen Entzündung am linken Fuß katarrhalische Infekte und ein laryngealer Reizhusten voraus, was wiederum schon einen Hinweis auf entweder Kalium jodatum oder Kalium bichromicum im Nachhinein liefern konnte (das Arzneimittelbild dieser beiden Substanzen ist nicht leicht auseinander zu halten). Beide aber stehen für das syphilitische Miasma, und dies dürfte hier von Bedeutung gewesen sein. Zu dessen Wirkspektrum zähle ich nicht nur neurologische Störungen, sondern auch die Probleme im Bereich der Nasennebenhöhlen. (Chronische Coryza!).
Unter Kalium bichromicum verloren sich die Beschwerden fast vollständig, so dass im Januar 2023 mit einer Gabe von Kali-bi. C50.000K die Behandlung vorläufig abgeschlossen werden konnte. Also: Ein komplexes Erscheinungsbild auf verschiedenen Ebenen, offenbar eine systemische Störung mit lokalen Entzündungen, allgemeinen neuralgischen, „wandernden“ Schmerzen und Reizungen der Nasenschleimhäute, ein „Syndrom“, das keinen schulmedizinischen Namen kennt, aber als Arzneimittelbild von Kalium bichromicum aufgefasst werden kann.
Bamberg, im März 2023