In der Homöopathie-Zeitschrift III/2022 durfte ich unter dem Titel „Frost um 16 Uhr“ einen Fall präsentieren, der mit Sepia einen entscheidenden Durchbruch erfuhr. Diese erfreuliche Lösung stellte sich im März 2022 ein bei der damals 63-jährigen Patientin.
Ein Jahr zuvor hatte sie ein akutes Abdomen, das sich als Ileus erwies infolge Bridenbildung nach einer Jahre zurückliegenden Ovarialzysten-Operation. Nach dem Eingriff wollte sie sich aber nicht wieder erholen, sie litt unter massiven, physikalisch nicht zu erklärenden Schmerzen im Narbenbereich, unter Schwächezuständen, Schwindel und Depressionen.
Wegen des protrahierten Verlaufes wurde ihr sogar Berufsunfähigkeit attestiert und die vorzeitige Pensionierung zugestanden. Ich mühte mich ab, bei dieser Patientin, die mir schon seit Jahrzehnten vertraut war, Linderung zu erreichen, lief aber meistens ins Leere. Woche für Woche bestellte ich sie ein und nahm ihre düstere Stimmung in Kauf, die mir jedes Mal signalisierte, dass ich ihr wieder nicht helfen konnte. Ich setzte Mittel ein wie Natrium sulfuricum, Kalium arsenicosum, Natrium silicicum, Aurum muriaticum natronatum, Carcinosinum, Syphilinum, Staphisagria, Lachesis und einige andere mehr, ohne dass eine Erleichterung erzielt werden konnte. Die Beschwerden waren besonders nachts intensiv und führten zum Erwachen mit Unruhe um etwa 4.00 Uhr. Von einem Treffen zum anderen nahm ich das Beschwerdebild genau zur Kenntnis in der Hoffnung auf den richtigen Schlüssel für diesen Fall.
Im März 2022 präsentierte sie mir dann ein Symptom, nämlich Frost um 16.00 Uhr, für das ich in der entsprechenden Rubrik bei Murphy nur Sepia fand. Dieses Mittel, gegeben in C200, bewirkte ein Wunder. Die Woche darauf vermeldete sie glücklich die Rückkehr ihrer guten Kräfte, das Nachlassen der quälenden Schmerzen und der Gewinn an Schlafqualität. Dies gab mir Anlass, für eine Ausgabe der Homöopathie-Zeitschrift, die unter dem Motto Meeresmittel stand, einen Bericht hierüber anzubieten.
Ich beschrieb die Patientin darin als burschikos, immer in Jeans und in einem Rock mir nicht vorstellbar, und verwies darauf, dass ich ihr vor über 30 Jahren als erstes Mittel schon mal Sepia gegeben hätte. Eine aufmerksame Leserin kritisierte mich mit dem Hinweis, dass diese Patientin auch in der gegebenen Verfassung schon lange Sepia verdient hätte.
Was diese sehr beliebte Arznei anbelangt, so halte ich es gerne mit Spinedi, der sagte: “Wo Sepia steht, steht auch Natrium“. Und so habe ich bei meinen Repertorisationen Sepia tatsächlich immer den Natrium-Salzen zugeschlagen und als eigenständiges Mittel überhaupt nicht mehr gegeben, auch weil ich ein völliges Versagen dieser Medikation erlebt habe in Fällen, die von A bis Z Sepia-Qualitäten aufwiesen.
Ich halte Sepia für ein, wie ich es nenne, „Zustandsmittel“, für Frauen vor allem in hormonellen Umstellungs-Phasen wie nach einer Schwangerschaft, nach einem Abgang, einer Interruptio oder in den Wechseljahren, also für ein Mittel von zeitlich begrenzter Wirkung, aber nicht von fundamentaler Nachhaltigkeit in der konstitutionellen Behandlung. Andere Zustandsmittel wären etwa Conium als ein Beitrag zu einer Tumor-Therapie oder Colocynthis, für Patienten, die sich in einer bestimmten, davon geprägten Gemütslage befinden.
Wie aber ging es jetzt weiter, nachdem wieder fast ein Jahr vergangen ist? Ich werde diesmal jeden meiner Schritte anführen und hoffe, damit den Leser nicht zu langweilen. Das Vorgehen zeigt aber die subtilen Wege auf, die zu einer nachhaltigen Lösung führen können, einen dynamischen Prozess hin zur optimalen Mittelfindung.
Nach dieser durchschlagend erfolgreichen Gabe von Sepia C200 also blieb meine Patientin in einer wesentlich besseren Verfassung, jedoch traten noch Unebenheiten auf, die es galt zu bereinigen. Fünf Wochen nach Sepia wirkte sie immer noch sehr positiv und zuversichtlich, hatte aber nun eine Wachphase ab 1.30 Uhr nachts, begleitet von unruhigen Beinen. Schweiß und Frost haben sich wieder zurückgemeldet ebenso wie skurrile Träume. Der Narbenschmerz aber blieb sehr zurückhaltend. Ich gab ihr nun, wie in meinem ersten Aufsatz bereits erwähnt, Kalium bichromicum C200, eine Arznei, deren großen Wert ich im vergangenen Jahr erfahren habe und für die diese Uhrzeit charakteristisch ist. Hintergrund ist, dass ich mittlerweile für all meine chronischen Fälle sowohl ein Natrium-Salz als auch alternierend ein Kalium-Salz einsetze.
14 Tage später berichtete sie von einem guten Schlaf, fühlte sich wohlauf und erhielt nun, in der Hoffnung auf weitere Stabilisierung, erneut Sepia C200. Fünf Wochen danach kam die Botschaft, sie sei wieder etwas labiler, schwitze wieder nachts, habe unruhige Beine und Muskelzittern und sei wieder etwas unsicher beim treppab Gehen. Der Narbenschmerz meldete sich nur bei nasskaltem Wetter, eine Migräne, von der bisher gar keine große Rede war, bestünde nicht mehr.
Erneut also eine Entscheidung für Kalium bichromicum, und wegen der anstehenden Urlaubszeit gab ich ihr eine weitere Dosis Sepia C200 mit, einzunehmen eine Woche später. Ein Monat darauf wieder nächtliches Erwachen, mit Schweiß und Kälteempfinden, vor allem aber mit einer Kälteempfindung der Füße nachts, obgleich objektiv warm (Sulfur!); Träume von erfolglosen Bemühungen; Narbenschmerz bei feuchtem Wetter; Längsspaltung der Nägel.
Nun schwenkte ich um zu Natrium sulfuricum C50.000K, das ich für eine angemessene Fortsetzung von Sepia grundsätzlich halte und das ich, darauf sei besonders hingewiesen, ja schon in der Zeit der schweren Narbenschmerzen gegeben hatte, allerdings damals ohne Erfolg. Drei Wochen später: die Narbe drückt etwas, im Übrigen wohlauf: Kalium bichromicum C200.
Drei Wochen weiter: In guter Verfassung, keine Bauchschmerzen, guter Allgemeinzustand, etwas Schwindel beim Hochblicken; und sie verweist mich auf einen ausgeprägten Hallux valgus mit dicker Exostose; weiterhin Füße kalt obgleich objektiv warm. Wegen der Deformierung der Großzehe gebe ich Carcinosinum C200, das ich gerne als Hintergrundmittel in allen Fällen gebe, wenn ein erhöhter Muskeltonus offenbar für Veränderungen an Sehnen und Gelenken zuständig ist (in Ergänzung zu den Kalium-Salzen). Eine Gabe Natrium sulfuricum C50.000 gab ich mit, 14 Tage später einzunehmen.
Nach weiteren fünf Wochen Erwachen um 3.00 Uhr und das Gefühl eines Felsens auf dem Bauch. Narbe empfindlich gegen Druck, empfindlich sogar gegen die Bettdecke, unruhige Füße: Kalium bichromicum C200.
Zwei Wochen später wieder Erwachen gegen 3.30 Uhr mit drückenden Narbenschmerzen und Unverträglichkeit von Kleidungsdruck; Mattigkeit: Sepia C200, ohne Erfolg ebenso wie eine spätere Gabe von Natrium arsenicosum C200. Nach weiteren zwei Wochen: Der Narbenschmerz fühle sich an, als würde ein Gummiband die Bauchdecke zur Wirbelsäule ziehen sowie das Gefühl eines Steines auf der Narbe. Nun sah ich eine klare Indikation für Plumbum C200, welches erfolgreich den "Pflasterstein" entfernte und den Zug zur Wirbelsäule. Unruhiger Schlaf zwischen 1.00 Uhr und 5.00 Uhr.
Nun vollzog ich erneut eine Abwandlung der bisherigen Mittelgabe und gab ihr Kalium phosphoricum C200. Den Grund für ein Phosphor-Salz gaben mir beim Durchstöbern der Krankenakte zwei Details: ein vorübergehender Haarausfall „handvoll“ und der Vermerk „Schlaf in Linkslage unmöglich“. Eine Woche später berichtete sie von Schmerzfreiheit, gutem Schlaf und gutem Allgemeinzustand; keine weitere Mittelgabe zunächst.
14 Tage später: Schläft gut durch; nur leichter Narbenschmerz bei nebeligem Herbstwetter, und jetzt erwähnte sie, wie schon vorher gelegentlich, ein Zittern der linken Hand. In dieser Rubrik ist das für mich interessante Mittel Pulsatilla, was ich gerne als Schwefelsalz zu verwerten pflege und worin ich eine Bestätigung von Natrium sulfuricum fand. Narben, die sich stets in Erinnerung bringen, sind für mich wie alte Verletzungen, von denen der Patient sich nicht trennen möchte, also ein Zeichen für Natrium muriaticum oder eines seiner Salze.
Die letzten zwei Gaben waren Kalium phosphoricum C 200 und 10 Tage später abschließend Natrium sulfuricum C50.000K. Die Patientin ist wohlauf, zufrieden, schläft gut und spürt ihre Narbe nur mehr diskret bei feucht-kaltem Wetter. Diese Kombination scheint mir nun die für sie optimale Strategie zu sein, mühsam genug erarbeitet. Dieser Verlauf bestätigt mir aber auch meine Zuordnung von Sepia im Rahmen einer ganzheitlichen konstitutionellen Behandlung, als Zustandsmittel nämlich.
Ich danke nun dem Leser für seine Geduld, und genau diese Geduld ist es, die nicht nur meine Patienten, sondern auch ich akzeptieren lernen musste als Voraussetzung für eine nachhaltige homöopathische Heilung.
Bamberg, im Februar 2023
Die Fortsetzung ist deshalb interessant, weil sie mir eine Bestätigung meiner dualen Arbeitsweise liefert. Es ist ja schon etwas verwunderlich, dass ich in jedem chronischen Fall sowohl ein Natrium- als auch ein Kalium-Salz zur Anwendung bringe. Zum einen erlaubt mir dies, die vielfachen, divergierenden Aspekte eines Patienten zu verwerten, zum anderen glaube ich, damit sowohl die genetische Belastung wie die biografische Prägung eines Patienten beantworten zu können. Auf meiner Website finden sich dazu 2 Aufsätze: Kann dieser Weg noch richtig sein? und Natrium- und Kalium-Salze.
Tatsächlich repräsentiert jede dieser zwei Komponenten unterschiedliche Teile der Pathologie des Patienten. So auch bei der Sepia-Frau. Während Natrium sulfuricum sich als geeignet erwies zur Fortsetzung des Sepia-Zustandes, so scheint mir Kalium phosphoricum einer anderen Seite der Patientin zu entsprechen. Ich schrieb also als Abschluss des 2. Teils, dass ich mit Natrium sulfuricum ihre Behandlung vorläufig beendete. Ich pflege aber meine Patienten darüber hinaus in lockeren Abständen weiterhin einzubestellen in der Absicht, das gute Ergebnis zu sichern.
Heute fand sie sich wieder ein, war sehr zufrieden, erwähnte nur eine noch vorhandene Empfindlichkeit ihrer Narbe auf feucht-kaltes Wetter. Aber: die Nacht nach der letzten Gabe von Nat-s. C50.000K empfand sie einen Betonklotz auf ihrer Brust (später nicht mehr). Das war für mich ein Hinweis, dass die Kalium-Pathologie noch nicht abgeschlossen ist. Die letzte Gabe von Kalium phosphoricum C200 lag 6 Wochen zurück, wirkte also nicht mehr, so dass Nat-s. deren Symptomatik offenbar provozieren konnte.
Dies beobachte ich sehr oft, nämlich das wechselseitige Auftreten der Symptome der einzelnen Komponenten. Auf diese Weise bestätigt sich mir immer wieder der Sinn dieses Konzepts des dualen Weges.
Der nächtliche Betonklotz auf der Brust ist der sogenannte Albdruck, ein Charakteristikum der Kali-Salze, das ich in meinem Aufsatz Die Kopflastigkeit der Kalium-Salze (auch auf meiner Website) beschrieben habe.
Bamberg, im März 2023