Es gehört zu den am häufigsten geäußerten Anliegen in meiner Praxis: der Wunsch nach einer homöopathischen Behandlung von Kindern mit Entwicklungsstörungen und Verhaltensauffälligkeiten. Ob Schlafstörungen oder Ängste, aggressives Verhalten oder Hyperaktivität, Konzentrationsprobleme oder andere Schulschwierigkeiten, es werden hohe Erwartungen in unsere Arbeit gesetzt.
Die betroffenen Familien sind oft extrem belastet, müssen nicht selten betreuende Hilfe in Anspruch nehmen, etwa professionelle Begleitung bei Kindern, die in Kindertagesstätten, Kindergärten oder Schulen schwer zu integrieren sind. Psychotherapie funktioniert halt nicht leicht in einem Alter, dem die Reflexionsfähigkeit noch fehlt. Homöopathie kann hier wunderbar helfen, wenn sie denn gelingt.
Ich hatte seit meiner Niederlassung und der Befassung mit der Homöopathie sehr viele Fälle überantwortet bekommen, musste aber auch über lange Zeit Enttäuschungen in Kauf nehmen. Zum einen haben wir detektivische Arbeit zu leisten, um zu erfassen, was in dem Kind eigentlich vorgeht. Ein Erwachsener gibt uns gerne Auskunft über sein Innenleben, bei einem unmündigen Kind sind wir aber fast ausschließlich auf Beobachtungen angewiesen, sei es durch die Eltern, sie es durch unsere eigene Wahrnehmung über das Verhalten, aber auch über die physische Struktur der kleinen Patienten.
Das zweite Problem war aber die Unzulänglichkeit meines therapeutischen Arsenals. Pflanzliche, stark psychotrope Arzneien wie Hyoscyamus, Stramonium oder Tarantula, so effektiv sie sein können, helfen gerade mal bei akuten Exazerbationen, versagen aber in der Behandlung der konstitutionellen Voraussetzungen. Gerade aber hier liegen meist hereditäre Faktoren vor, unter anderem nicht selten familiäre, traumatisierende Altlasten, weshalb sich gerade die Nosoden als wichtige Bestandteile der Behandlung erweisen.
Dieses Wissen aber musste man sich erst erarbeiten, ebenso wie mein schrittweises Eindringen in die Welt der mineralischen Salzkombinationen mir ein Arsenal bereitstellte, das mir heute weit mehr Hilfestellung erlaubt als noch vor Jahren möglich war. Dennoch bleibt jeder Fall ein Abenteuer, bis man verstanden hat, welchen Weg man gehen muss. Und dieser kann oft Jahre in Anspruch nehmen, bis das Kind stabilisiert ist.
Diese Aufgabe lohnt aber alle Mühe, denn wenn wir nicht die richtige Weichenstellung erreichen können, wird ein ganzes Leben belastet sein. Unvergessen ist mir ein junger Mann, der schon als Kleinkind und später in der Schule sehr auffällig war. Er störte dauernd den Unterricht durch seine motorische Unruhe, ärgerte andere Kinder, war ohne Ritalin® überhaupt nicht schulbar. Weil er seine Kameraden zu beißen neigte, suchte ich mein Glück in Belladonna (Beißen bei Kindern), was natürlich zu schlicht gedacht war und völlig ohne Effekt blieb. Später versagte er in der Lehrzeit, geriet an Drogen, verbüßte Gefängnisstrafen wegen Drogenhandels und konnte, obwohl ein ganz lieber Kerl, wenn er bei mir war, auch seine Eltern mit dem Messer bedrohen. Meine Möglichkeiten waren damals zu sehr begrenzt, als dass ich seine pathologischen Impulse bändigen konnte. Sein Vater starb, so meine Interpretation, angesichts des Dramas an gebrochenem Herzen, er selbst nahm sich das Leben im Alter von etwa 30 Jahren.
Ähnlich verhält sich der nun 9-jährige Kevin (Name geändert). Er stört zwar nicht in der Schule, neigt aber zuhause zu ungeheuren Wutausbrüchen mit großer Zerstörungswut. Er neigt zu zwanghaften Verhaltensweisen und zu Tics, indem er sich dauernd räuspert, ans Ohr fasst oder irgendwelche Wörter ständig wiederholt. Schlafstörungen lassen ihn um 5 Uhr erwachen. Dann wiederum plagen ihn Ängste abends im Bett und er braucht Licht nachts. Er kann Dinge durch die Gegend werfen und seinen Hund quälen. Sein leiblicher Vater – die Eltern leben nicht zusammen und die Familienverhältnisse sind chaotisch – ist schwer Alkohol-krank, seine Mutter war zur Adoption freigegeben worden, weil ihre eigene leibliche Mutter die große Zahl ihrer Kinder nicht versorgen konnte. Sie leidet selbst unter einer schweren Angststörung.
Der Kundige kann schon einige Mittelbilder heraushören, so etwa Phosphorus (Furcht im Dunkeln), Tuberculinum (wirft Dinge durch die Gegend), Kalium jodatum (5 Uhr), Syphilinum (Tics und Zwänge) und schließlich Carcinosinum (die Biografie seiner Mutter). Über 7 Jahre geht nun schon die Betreuung, ich habe anfangs einige Arzneien versucht, wurde aber immer wieder verunsichert wegen des zähen Verlaufs. Seit 4 Jahren aber arbeite ich bei diesem Kind ziemlich konstant mit Natrium phosphoricum, Tuberculinum, Kalium jodatum, Syphilinum und gelegentlich auch Carcinosinum, wiederholt je nach vorherrschender Symptomatik.
Die Wut ist abgelegt, die abendlichen Ängste und das Früherwachen sind unter Kontrolle, lediglich die Tics tauchen immer mal wieder auf. Er ist auch eigentlich ein freundlicher Junge und ich setze darauf, dass sein Leben bessere Bahnen nehmen wird als im ersten Falle, nachdem eine sichtlich erfolgreiche Behandlung sukzessive seine kranken Veranlagungen, offenbar vorwiegend genetischer Natur, aber durch die Lebensumstände getriggert, nachhaltig abbauen konnte – die Nosoden waren hierbei von großer Bedeutung. Aber das Ergebnis wird einem nicht geschenkt, sondern braucht einige Mühe, Geduld und kreative Raffinesse.
Die Tuberkulinie scheint mir auch in anderen Fällen eine wichtige Rolle zu spielen. So betreue ich den nun 5-jährigen Max seit einem halben Jahr speziell wegen seiner Schreianfälle und seiner heftigen Reaktion schon auf kleinen Ärger. Eigentlich ist er schon seit seiner Geburt in meiner Behandlung; das damalige Problem war eine Neurodermitis, über die ich nicht mehr Informationen erhalten konnte, außer dass er sich kratzen müsse und im Übrigen das Wasser meide. Später war von nächtlichem Kopfschweiß die Rede und dass er gerne barfuß laufe; man denkt natürlich an Sulfur! Von einer weiteren Veränderung wurde schließlich noch berichtet, nämlich dass eine Impfung am Oberschenkel eine lokale Erhebung mit zentraler Delle hinterlassen habe. Letztere Beobachtung ließ mich an Silicea denken, als ich auf seine Wut angesprochen wurde (heftig, wenn geärgert).
Ich entschied mich für Natrium silicicum. Das schwere Einschlafen, das ihn schon seit seiner Geburt kennzeichnet, war es, das mich zu einem Natrium-Salz führte (wie man im Synthetischen Repertorium von Barthel-Klunker nachlesen kann, dominieren in der Rubrik Schweres Einschlafen die Natrium-Salze). Und tatsächlich hat er darauf reagiert mit zunächst einem Tag schlechterer Laune und 3 Tagen Hüftschmerz. Danach kamen kleine Infekte auf inklusive einer Tonsillitis, die sich rasch mit erneuten Gaben dieser Arznei haben beruhigen lassen. Einen wichtigen Schritt konnte ich mit Tuberculinum C200 machen, infolgedessen das Schreien sich vollkommen verlor. Er ist heute, nach 6 Monaten sehr stabil, für das Hautproblem legte ich noch eine Gabe Kalium sulfuricum C200 nach, womit ich meine Systematik erfüllte, für jeden Patienten mit chronischen Krankheiten sowohl ein Natrium- als auch ein Kalium-Salz einzusetzen. Damit scheint man nun all seiner Pathologie gerecht geworden zu sein.
Bleiben wir noch bei der Tuberkulinie: Sarah ist jetzt 5 Jahre alt. In ihren ersten Lebenstagen war ich befasst mit einem Geburts-bedingten Kephalhämatom, das sich zu einer Exostose verhärtete. Ich gab ihr Calcium fluoratum und es begann sich zurückzuentwickeln. Später wurden quälende Blähungen beklagt, die den Schlaf ab 3 Uhr nachts beeinträchtigten; Natrium sulfuricum war die Lösung.
Danach war wenig Kontakt bis zum Dezember 2022: häufige Infekte kamen nun zur Sprache, aber vor allem ein psychisches Problem, nämlich nächtliche Schreianfälle. Das Kind war aber schwer belastet, sein Vater litt unter erheblichen Depressionen und war ständig am Rand des Suizids. Wegen dieses Leidensdrucks, der dem Kinde ja nicht verborgen blieb, gab ich Carcinosinum C200. 5 Minuten danach begann Sarah für eineinhalb Stunden zu weinen ohne dass sie ausdrücken konnte, warum. Von da an war sie erstmal stabil.
Nach 3 Wochen setzten aber heftige Veränderungen ein, sie beklagte täglich Bauch- und Kopfschmerzen sowie Schmerzen unter dem Nabel; sie hatte auch wenig Appetit. Ein vaginaler Fluor fiel auf und Wundheilungsstörungen wurden beobachtet mit der Entwicklung spontaner Eiterbeulen. Und, während sie tagsüber ein liebes Kind schien, wurde sie abends beim Einschlafen tobsüchtig, schrie rum, spuckte auf den Boden und warf Dinge durch die Gegend.
Silicea war mein Gedanke, und man möchte es nicht glauben: so sehr diese Kinder feinsinnig und angenehm erscheinen, sobald sie aber unter Druck geraten, können sie eine enorme Heftigkeit offenbaren. So gab ich ihr als zweite Linie ihrer konstitutionellen Behandlung Kalium silicicum (neben dem Natrium sulfuricum). Mit einigen Gaben beider Mittel konnte ich sie schön stabilisieren, währenddessen sich allerdings noch einige Zeichen entwickelten, die diese Mittelwahl bestätigten. Sie zog sich zeitweilig im Kummer zurück, beklagte Versagensängste, war aber peinlich auf Ordnung bedacht, verweigerte phasenweise Trost, vermochte sich aber später gut mitzuteilen. Also ohne kleinere Krisen ging das nicht ab, aber das Kind wurde zunehmend harmonischer. Auch Tuberculinum wurde ein wichtiger Bestandteil der Therapie. Und als ihr Vater sich schließlich doch das Leben nahm, erwies sie sich als reif genug, mit dieser Lage fertig zu werden.
Neben dem tuberkulinischen Miasma, befriedet durch Tuberculinum und Silicea, spielt in diesem Fall auch das karzinogene Miasma eine Rolle, übernommen sicher von der Mutter. Diese erlebte in jungen Jahren einen sexuellen Missbrauch, der sie nachhaltig prägte und in ihr, nach meiner Interpretation, eine hohe Opferbereitschaft und Verantwortlichkeit, ja Selbstverleugnung etablierte, so dass sie bereit war, mit diesem schwer depressiven Mann – sie kannte ihn schon lange – eine Familie zu gründen.
Schlug sich dessen fundamentale suizidale Verfassung, die Ausdruck der Syphilinie sein dürfte, in der Genetik nieder? Sahras jüngerer Bruder, nun knapp ein Jahr alt, zeigt eine hohe Anhänglichkeit, die meines Erachtens eine Verlustangst ausdrückt. Die ganze Nacht hängt er an der Brust der Mutter. Fear of being abandonned: Carc., Puls.! Die Kühchenschelle verwerte ich gerne als Schwefelsalz, aber nicht nur als Kalium sulfuricum, wie schon Kent vorschlug, sondern auch als Natrium sulfuricum. Diese Arznei bekam ihm schon gut wegen seiner Hautprobleme und sollte auch sein starkes Bedürfnis nach Nähe zügeln. Nun zeigt er aber einen auffallenden Impuls: er beißt seine Mutter beim Stillen in die Brust (und wird dann natürlich geschimpft). Aus diesem Grund erhält er von mir Kalium jodatum, womit ich das Walten der hereditären Syphilinie beantworte.
Während Silicea mit seinem Zorn nur auf Reiz und Ärger reagiert, so hat Kalium jodatum von Haus aus diese krankhaften Impulse, ein anderes Mittel der Syphilinie aber auch: Mercurius (impulse to do violence). Ich gebe Quecksilber in der konstitutionellen Behandlung nur mehr als Mercurius chloratus natronatus, und es tut Kindern gut, die einen großen Bewegungsdrang haben und sehr schnell abzulenken sind, richtige ADHS-Fälle.
So habe ich nun anhand einiger Geschichten meine Strategien in der Behandlung verhaltensauffälliger Kinder aufgezeigt und auch demonstrieren können, dass gerade miasmatische Überlegungen in diesen Behandlungen einen hohen Stellenwert haben. Es lässt sich aber auch erkennen, warum ich bevorzugt mit diesen Salzen arbeite, denn, wie Hahnemann schon erkannte, es gibt Fälle – für mich die Norm –, in denen mehrere Miasmen am Werk sind und jeder der einzelnen Bestandteile eines solchen „Doppelmittels“ für ein eigenes Miasma steht. Und anzuführen ist, dass nach meinen Überlegungen die Kalium-Salze das karzinogene Miasma repräsentieren.
Bamberg, im November 2023