Anfang Mai fand die 158. Jahrestagung des DZVhÄ statt, in diesem Jahr in Bamberg, und sie widmete sich dem Thema der Miasmen. Alle Hauptvorträge bezogen sich also auf dieses Gedankengebäude, das seit Einführung der Psoralehre durch Hahnemann bis zum heutigen Tag kontrovers diskutiert wird und verschiedene Lager hat bilden lassen. So war es auch auf der Tagung nicht zu übersehen, dass jeder Referent hierzu seine eigene Sicht und Anwendungsweise entwickelt hat und dass die Wertschätzung der Miasmenlehre ganz unterschiedlich ausfällt.
Während einige Vorträge nur einen mäßigen Bezug zur Miasmenlehre erkennen ließen, das Thema gleichsam als Feigenblatt nutzend, hinter dem nicht viel Substanz zu finden war, entfalteten andere eine hochkomplexe Umgehensweise, wie etwa Dietmar Payrhuber, der mit erstaunlichen Ergebnissen aufwartete. Er vermittelte uns den Ansatz von Jan Scholten [12], welcher sich aber auf dermaßen subtile psycho-soziale Aspekte in der Biografie des Patienten stützt, dass deren Realisierung in der Alltagsarbeit selbst einer homöopathischen Privatpraxis mit deren komfortablerem Zeitrahmen schwer nachvollziehbar erscheint. Auch Peter Gienows Miasmenkarussell [2,3] kam zur Sprache ebenso wie Sankarans Miasmenvielfalt [11].
Am besten fand ich meine eigenen Gedanken wider in Thomas W.A. Kochs Vortrag, der sich im Wesentlichen auf die fünf (bis sechs) hereditär-chronischen Miasmen bezog im Sinne von Yves Laborde [8] bzw. Peter Gienow und der eine bodenständige Arbeit aufzeigte, die sowohl die Pathologie des Kranken als auch dessen Erblast zur Grundlage seiner Arzneimittelwahl macht, ohne ausufernde spekulative Elemente.
Andere Kongressteilnehmer wiederum hielten nicht zurück mit ihrer Auffassung, dass die Miasmentheorie für ihre Alltagsarbeit im Grund völlig belanglos sei – und sie stehen damit nicht alleine, denn so sieht die Realität nun einmal aus. Wir haben m.E. allzu intensiv verinnerlicht, dass das auffallende Symptom nach §153 Organon 6. Auflage [4] das entscheidende Element einer erfolgreichen Arzneimittelwahl zu sein hat.
So war es nicht verwunderlich, worauf das Experiment einer Doppelanamnese hinauslief, nicht nur auf zwei verschiedene Arzneien, Lac caninum und Guajacum, sondern damit auch auf Substanzen, die nach meiner Meinung kaum die Potenz haben werden, eine derart tiefe Pathologie zu erreichen, wie sie ein Still-Syndrom darstellt. Ich fürchte, damit hat man nur leitende Symptome aufgegriffen, aber keine Antwort gefunden auf die Schwere der Erkrankung. Kritik an diesen Entscheidungen steht mir aber nicht im Mindesten zu – schon allein aus Achtung vor den agierenden Kollegen –, solange der Ausgang der Behandlung nicht bekannt ist.
Kaum einer meiner eigenen Aufsätze oder Vorträge vergeht ohne ein Zitat von JC Burnett [1], der nicht nur den Haltepunkt kreiert hat, wonach nicht jede Arznei jedem Leiden gewachsen ist – ihm gibt auch Gerhard Risch [8] recht, der nur 10% unserer Arzneien für geeignet hielt, chronischen Krankheiten gerecht zu werden –, sondern der auch prophezeite Wenn die Homöopathie dereinst ihre Säuglingswindel abgelegt hat, dann wird das Symptom für die höhere Homöopathie das sein, was das Buchstabieren für das Lesen ist.
So gesehen ist die Homöopathie ein zweihundert Jahre altes Riesenbaby, das aber noch allerhand Entwicklungspotential hat. Und so gesehen kann man den Bamberger Kongress als einen der zahlreichen zu gehenden Schritte betrachten, die auf dem Weg einer Konsensbildung getan werden müssen.
Mit meinem Aufsatz möchte ich anhand weniger Fälle aufzeigen, wie wertvoll mir in meiner Arbeit die Berücksichtigung des Miasmas und somit der Pathologie, also Art und Ort der Erkrankung, geworden ist, aber wie ich andererseits eine tiefe Wertschätzung gewonnen habe für die Sorgfalt der Symptomendetails, welche die Homöopathie in den über zweihundert Jahren ihres Bestehen zusammengetragen hat.
Zunächst drei Krankheitsfälle – alle aus dem syphilitischen Formenkreis –, zu deren Lösung nur das Wissen um die Miasmen beigetragen hat, wobei ich vorausschicken möchte, welche Grundlagen meine Arbeiten mittlerweile prägen:
Für mich bedarf es zur Lösung chronischer Fälle in erster Linie mineralischer Arzneien als Rückgrat der Behandlung, entsprechend Hahnemanns eigener Entwicklung hin zur Behandlung chronischer Krankheiten. Wertvoller als Einzelsubstanzen wie Arsen, Phosphor oder Sulfur sehe ich aber heute die Salze wie Natrium arsenicosum, Kalium phosphoricum oder Aurum sulfuratum; bei ihrer Auswahl helfen mir miasmatische Überlegungen.
Eine heute 29-jährige Arzthelferin kam vor zwei Jahren in meine Behandlung wegen einer chronisch wiederkehrenden Migräne, die in sehr kurzen Abständen aufzutreten pflegte und auffälligerweise durch warme Witterung bzw. durch Wetterwechsel von kalt nach warm hervorgerufen wurde. Weitere auslösende Elemente waren ein längerer Schlaf, z. B. am Wochenende, sowie der Konsum von Knoblauch oder Rotwein. Schon als Kind habe sie unter Kopfschmerzen gelitten, ab dem Jugendalter seien diese Beschwerden zur ständigen Begleitung geworden. Es handelte sich um hämmernde und berstende Kopfschmerzen mit einer Heftigkeit zum Verzweifeln, begleitet von auffallender Lichtempfindlichkeit und angekündigt schon Tage zuvor durch ein getrübtes Sehvermögen. Gelegentlich gab es auch Gesichtsfeldausfälle vor allem der linken Hälfte.
Des weiteren hörten wir von gehäuften Tonsillitiden in der Kindheit, relativ starker Menstruation mit reizbarer Stimmung vor der Regel sowie gelegentlichem Brustspannen, von Fallträumen, auch von Träumen der Sprachlosigkeit in dem Sinne, dass sie sich in Gefahr befindet, aber sich nicht äußern kann. Das Verlangen nach körperlicher Nähe sei in der letzten Zeit eher verringert. Sie fiel durch eine blasse Haut auf, habe in früheren Jahren Ekzeme gehabt an Ellenbeugen und Oberlidern sowie in der Kindheit eine Fingerwarze und weise eine Exostose im Bereich der Kniegelenke auf.
Die Auswertung ergab eine hohe Prävalenz von Natrium muriaticum, aber auch Natrium carbonicum, einer Arzneimittelgruppe, die hervorragend auf die Wärmeempfindlichkeit zu passen schien. Da andererseits auch Phosphor relativ gut vertreten war in der Auswertung und die junge Dame von herzlicher und engagierter Wesensart zu sein schien, also gar nicht dem eher abweisenden Natrium-muriaticum-Charakter entsprach, wählte ich für die Behandlung zunächst das unter dem ebenfalls berichteten Symptom ungleicher Pupillen (während der Migräne) eingetragene Natrium phosphoricum, damit auch meiner Neigung zu kombinierten Arzneien folgend.
Natrium phosphoricum C200 änderte nichts an der Häufigkeit und Intensität der Kopfschmerzen, vielmehr beklagte sie nun neu aufgetretene schmerzhafte Blähungen. Nach drei Wochen gab ich Thuja C200, woraufhin sie sich zunächst wohl fühlte, aber nach einer weiteren Gabe Natrium phosphoricum C200 drei Wochen später kehrten die Kopfschmerzen wieder. Wegen des ungünstigen Verlaufs unter der zuerst gewählten Arznei überarbeitete ich die Anamnese erneut und besann ich mich darauf, dass Migräne ja als Krankheit im Bereich des zentralen Nervensystems angesiedelt ist und somit zumal bei der bereits frühzeitig und häufig auftretenden Variante unserer Patientin also wohl am ehesten als syphilitisches Leiden zu betrachten sei. In der Familienanamnese fanden sich schließlich Hypertonus, Apoplex und Krebserkrankungen als Zeichen möglicher primärer Syphilinie. Und bei der Patientin selbst waren die ungleichen Pupillen (im Schmerzanfall), die Exostosen an den Kniegelenken ebenso wie die Neigung zu Tonsillitiden und die Empfindlichkeit gegen Sommerwetter durchaus auch als sekundäre syphilitische Elemente zu werten.
Die Annahme eines syphilitischen Leidens bei gleichzeitiger hoher Prävalenz von Natrium muriaticum bzw. Natrium carbonicum führte mich zur Entscheidung für Aurum muriaticum natronatum. Dies erhält sie, anfangs in C200, später als LMK, seit September 2006 in Abständen von sechs bis acht Wochen, worauf sie jedes Mal für den entsprechenden Zeitraum völlig frei von Kopfschmerzen ist. Zwischengaben von Syphilinum C200, bisher zweimal gegeben, bewirkten keine wesentlichen Veränderungen.
Die lange Behandlungsbedürftigkeit erscheint mir nicht untypisch für ein Leiden syphilitischen Charakters, also einer besonders tief sitzenden Pathologie.
(Nachtrag im Jahre 2014: Nach fünf Behandlungsjahren sehe ich die Patientin nur mehr einmal pro anno, weil sie das Gefühl hat, wieder Nachschub zu brauchen; im Übrigen ist sie beschwerdefrei.)
Ebenfalls vor zwei Jahren kam ein heute sieben Jahre altes Mädchen in meine Behandlung wegen einer neurogenen Blasenstörung. Aufgefallen war die Erkrankung durch eine gestörte Sauberkeitsentwicklung sowie einen strengen Uringeruch. Urologische Untersuchungen im Alter von drei Jahren fanden eine Meatusstenose der Harnröhre und zeigten, dass die Harnblase stark verkleinert und deformiert war und eine mit 7 mm (!) deutlich verdickte Wand aufwies. Auffallend war schon während der Schwangerschaft eine Reifungsstörung derart, dass der Bauchwanddurchmesser hinter den Erwartungen zurückblieb und sie mit 2700 Gramm in der 39. Schwangerschaftswoche leicht untergewichtig zur Welt kam. Eine vorausgegangene Schwangerschaft endete mit einer Fehlgeburt in der 20. Schwangerschaftswoche wegen Plazentainsuffizienz. Ein weiteres Kind wurde als gesund beschrieben. In der Familienanamnese fallen auch Blasenprobleme der Mutter auf, im Übrigen gab es unter den Großeltern Arteriosklerose mit Koronar-Insuffizienz und Herzinfarkt sowie hochgradige Osteoporose.
Über das Mädchen selbst wurde berichtet, dass es meist warme Füße habe, dass es gern barfuß laufe, nachts die Füße abgedeckt hätte, dass es die Dunkelheit fürchte und das Alleinsein, dass es bei Erkältungen zahlreiche Aphthen aufweise sowie Mundgeruch, dass es als Baby viel Speichelfluss gehabt hätte sowie eine auffallende Fehlstellung der Zähne mit Progenie und Kreuzbiss. Eine Fußwarze sei spontan abgefallen.
Einige Merkmale an dem Kind verweisen auf eine Syphilinie; dazu gehören die Fehlentwicklung des Kiefers, die Neigung zu Aphthen und zu Speichelfluss sowie die angeborene Fehlbildung in Form einer Meatusstenose. Die vorausgegangene Fehlgeburt sowie mit Osteoporose und Arteriosklerose deutliche Hinweise auf eine primäre Syphilinie unter den Vorfahren untermauerten die miasmatische Einteilung. Nahe liegend war also vor allem ein Gold-, Arsen- oder Quecksilber-Salz. Vom Typus her sprachen die warmen Füße und einige andere Beobachtungen für eine Schwefelverbindung. Ich wählte Aurum sulfuratum, was vorübergehend eine etwas unruhigere, mit Juckreiz verbundene Hauterscheinung nach sich zog sowie Aphthen auslöste. Aufgrund dieser Reaktion gab ich zwei Wochen später Syphilinum C200, woraufhin der Uringeruch sich verlor und die Enuresis sich deutlich verbesserte. In dieser Zeit, noch ganz zu Beginn meiner eigenen Therapie, wurde wieder ein E.-coli-Befall festgestellt, was die urologische Universitätsklinik veranlasste, neben der Dauertherapie mit Dridase® auch eine Dauerantibiose anzusetzen. Aus diesem Grund war zunächst der Erfolg der homöopathischen Therapie nicht verbindlich zu beurteilen. Aber andere Parameter wie eben die Hautveränderungen sowie eine Erkältlichkeit und die Neigung zu Aphthen verloren sich vollständig unter der weiteren Therapie mit Aurum sulfuratum, zunächst in C200, später in LMK, im Wechsel mit Syphilinum C200. Die Blasenkontrolle wurde zunehmend besser, aber nach Ausklingen der Arzneimittelwirkung (ca. sieben bis acht Wochen nach einer C50.000 Korsakoff) kam es noch für einige Zeit zu erneutem nächtlichem Einnässen.
Die letzte Konsultation erfolgte im Juni 2008, nun sprach die Mutter von einer guten Blasenfunktion und Blasenkontrolle, erwähnte eine kräftige Entleerung und berichtete, dass die Dauerantibiose seit längerem abgesetzt, der Urin aber keimfrei geblieben sei. Alle anderen Erscheinungen wie Ekzeme und Infektanfälligkeit hatten sich verloren. Das Kind ist mittlerweile eingeschult und wurde als strebsam und gut motiviert beschrieben. Das Mädchen macht nach den Berichten der Mutter nun, nach zwei Jahren homöopathischer Therapie, einen gesunden und robusten Eindruck.
Dies waren nun zwei Erkrankungsfälle, die sehr zufriedenstellend mit einem Gold-Salz behandelt wurden, ohne dass im eigentlichen Sinne eine Aurum-Pathologie aufgefallen wäre. Allein die Zuordnung zu dem tiefen Miasma der Syphilinie führte mich zu den beschriebenen Entscheidungen.
Der heute 49 Jahre alte Mechaniker kam vor zweieinhalb Jahren in meine Behandlung wegen einer Encephalomyelitis disseminata. Das Leiden manifestierte sich mit Muskelschwäche, Sensibilitäts- und Koordinationsstörungen in krankheitsüblicher Ausprägung ohne wesentliche individuelle Besonderheiten. Bemerkenswert war lediglich ein vorübergehender Fingertremor und die Tatsache, dass schon die Mutter des Patienten an MS litt.
Der Patient hatte in seiner Vorgeschichte einen Hodenhochstand und war durch auffallende X-Beinstellung der Kniegelenke gekennzeichnet. Wichtig für die Beurteilung seiner Konstitution schien mir aber eine Neurodermitis mit Befall von Hals und Achseln, rot, juckend, brennend, seit fünf Jahren aktiv und mit Salben behandelt. Diese Hauterkrankung entsprach am besten dem Arzneimittelbild von Sulfur, berechtigte auch zur Annahme, die MS als Unterdrückungsfolge eines Ekzems zu sehen.
Man hätte Sulfur geben können, es hätte aber, wie bei anderen Patienten beobachtet, vermutlich nur das Ekzem kuriert, nicht aber die wesentlich tiefere Pathologie der MS; es wäre gleichfalls auf eine Unterdrückung hinausgelaufen. Ich suchte vielmehr nach einem Schwermetall-Salz, um dem Miasma der Syphilinie gerecht zu werden, dem dieses neurologisches Leiden wohl in erster Linie zuzuschreiben war. Zum damaligen Zeitpunkt, noch manche Erfahrung in der Behandlung syphilitischer Leiden vor mir, schien mir bei Erkrankungen des Zentralnervensystems vor allem ein Goldsalz indiziert und deshalb begann ich die Therapie mit Aurum sulfuratum. Ich gab es anfangs in aufsteigenden LM-Potenzen mit Rücksicht auf die schon länger eingeleitete schulmedizinische Behandlung mit Copaxone.
Die Haut beruhigte sich, die MS blieb friedlich zunächst, aber nach vier Monaten beklagte er einen Schwindel, den er noch nicht kannte. Nun überdachte ich meine Vorgehensweise, nahm Rücksicht auf eine deutliche Schweißneigung und die Beobachtung einer relativ hohen Prävalenz von Mercurius solubilis in der Repertorisation und revidierte meine ursprüngliche These von der Aurum-Zuständigkeit. Ich wechselte nun zu Mercurius sulfuricus, welches ich gleich in der C200 gab, um die Verschlechterung unter meiner bisherigen Behandlung möglichst rasch zu bereinigen. Zunächst änderte sich nichts am Schwindel und auch das Ekzem kam verstärkt zu Tage, weshalb ich nun Syphilinum C200 einwarf mit der Folge einer klaren Verringerung aller zuletzt hervorgerufenen Störungen, des Schwindels, des Ekzems und auch des Schwitzens.
Ab jetzt bereinigten sich alle Symptome vollständig und dauerhaft unter wiederholten Gaben von Mercurius sulfuricus, zunächst in C200, später als LMK. Auffallend war nur, dass Behandlungspausen nach Ablauf der zu erwartenden Wirkdauer (bei LMK-Gaben also nach sieben bis acht Wochen) das Schwitzen wieder auftreten ließen, und bemerkenswert war die vorübergehende Rückkehr eines allgemeinen Hautjuckens, das zunächst weder auf Psorinum noch auf Syphilinum reagierte, sondern erst auf eine weiter Gabe Mercurius sulfuricus LMK seinen Frieden fand. Zuletzt war der Patient völlig beschwerdefrei, und ich halte die MS nun, nach dieser Verlagerung der Manifestationsebene seiner Pathologie und der Rückkehr eines zuvor unterdrückten Leidens, für weitgehend überwunden. Beinahe überflüssig zu erwähnen ist, dass Mercurius sulfuricus, ein sogenanntes kleines Mittel, aber eine große Arznei bei psorisch-syphilitischen Leiden wie diesem, in der Repertorisation (siehe Tabelle zu Fall 3!) kein einziges Mal auftritt.
Angesichts solcher Verläufe kann ich schwer verstehen, dass mancher Kollege, der sich intensiv der MS-Behandlung widmet, zum miasmatischen Denken keinen Zugang findet.
In den genannten Fällen begünstigte also die Berücksichtigung der miasmatischen Belastung in Kombination mit den individuellen Persönlichkeitsmerkmalen die Arzneimittelwahl, die nur auf diesem Weg zu bewerkstelligen war. Diese Fälle stehen stellvertretend für den überwiegenden Teil meiner Arbeit bei chronischen Erkrankungen. Anders verhält es sich häufig bei Akutfällen, von denen viele alleine aus der momentan vorherrschenden aktuellen Symptomatik zu lösen sind, einer Symptomatik, die oftmals aber erst über mehrere Behandlungsschritte zutage befördert werden muss. Drei Fälle vertebragener Erkrankungen mögen dafür beispielhaft stehen:
Ein heute 43-jähriger Mann, der bei mir seit Jahren wegen chronischer Rhinitis in Behandlung steht und dessen Problem ich bisher noch nicht zufriedenstellend lösen konnte, meldete sich an einem heißen Tag im August 2007 wegen starker Kopfschmerzen. Sie säßen vor allem im Hinterkopf und verhinderten die Kopfbewegung in jede Richtung. Ein auslösendes Element war nicht zu finden. Der Patient hielt den Kopf völlig starr, allerdings leicht zur linken Seite geneigt (wobei das Kinn nach rechts wies) und klagte über eine Verschlimmerung bei jeder Aktivität wie Schlucken, Kauen, Bewegung des Kopfes und Erschütterung des Körpers.
Ich gab zunächst eine Dosis Bryonia C30, wegen Ausbleiben einer Besserung zwei Tage später Gelsemium C30, der Patient erhielt Ibuprofen und ich begann wegen der Heftigkeit der Symptomatik eine Akupunktur mit täglichen Sitzungen. Wegen einer gewissen Erleichterung wiederholte ich Gelsemium am Folgetag, um am Tag vier zu erfahren, dass die Schmerzen vor allem nachts um 2.00 Uhr den Schlaf durchbrechen würden. Er berichtete nun auch, dass er, obwohl extrem heiße Augusttage vorlagen, die vorherrschende Wärme in den letzten Tagen gar nicht richtig wahrgenommen habe sowie vor Ausbruch der Erkrankung auffallend verfroren gewesen wäre. Jetzt lag eine komplette Symptomatik vor, sie verwies auf Lachnanthes, welches auch zügig und innerhalb von zwei Tagen das Problem bereinigte.
Mitte April 2008 kam eine nun 53-jährige Patientin wegen akuter Lumbago in Behandlung. Sie hatte schon in der Vergangenheit häufige Rückenbeschwerden, ihre weiteren Leiden sind Harnwegserkrankungen und wiederkehrende Vaginitiden. Zunächst holte sie sich nur eine Dosis Rhus toxicodendron C30 ab, da ihr dies vor kurzem schon über akute Rückenbeschwerden hinweggeholfen hatte. Diesmal besserte sich aber nichts. Vielmehr berichtete sie von einer Verschlimmerung bei jeder Bewegung, von einer Besserung durch Wärme und durch Liegen. Sie habe das Gefühl abzubrechen. Eine Gabe Nux vomica C30 sorgte für kurze Beschwerdefreiheit, ab dem nächsten Tag waren die Schmerzen wieder da. Sie wurden nun als Stechen beschrieben, schlimmer nach Sitzen, besser durch Wärme, schlimmer bei Stuhlgang. Eine Dosis Colocynthis C200, durch letzteres Symptom indiziert, half auch nicht. So griff ich nun, was eine durchaus empfohlene Vorgangsweise ist bei wiederkehrenden Erkrankungen, wenn Akutmittel versagen, zu einer konstitutionell gedachten Arznei und gab unter Berücksichtigung der vermuteten Miasmatik im chronischen Falle, nämlich der Sykose, Natrium phosphoricum C200. Binnen 24 Stunden besserte sich nun die Lumbago, danach bestand aber eine schmerzhafte HWS-Steifigkeit: Kein guter Verlauf nach der Heringschen Regel. Der Absicht folgend, durch konstitutionelle Therapie weiterzukommen, gab ich nun Medorrhinum C200, was ebenso nicht weiterhalf. Zwei Tage später berichtete sie über einen stechenden Schmerz cervical, schlimmer nachts im Liegen. Nun war ich bei einer Symptomatik angelangt, die auf Kalmia verwies, die Patientin erhielt es in C30 und war zwei Tage später weitgehend schmerzfrei und zu normaler Bewegung fähig. Ein Rezidiv einige Wochen später sprach auf die gleiche Arznei an.
Wenige Tage zuvor 50 Jahre alt geworden kam diese Patientin mit heftigen Rückenschmerzen in meine Praxis. Etliche Jahren schon behandelte ich sie wegen vielfältiger Leiden, wobei ich aber nur von mäßigem Erfolg belohnt wurde, denn ihr kindskopfgroßes Myom, das heftigste Metrorrhagien verursachte, schrumpfte zwar unter Therapie auf Faustgröße und die Blutung sisitierte, mir wurde aber nie klar, welche der zahlreichen Arzneien dies bewirkte. Dafür entwickelte sich eine große Ovarialzyste, die schließlich wegen Stildrehung vom Chirurgen beseitigte werden musste mit der Folge heftigster Narbenschmerzen und schwerer nächtlicher Träume. Nun aber kam sie wegen massiver Rückenschmerzen, die ihr die Tränen in die Augen trieben. Der Schmerz saß links neben der Wirbelsäule in Höhe etwa des 10. Thorakalwirbels, jede Bewegung, schon leichte Berührung und auch Wärme verursachten eine Verschlimmerung. Eine Ursache war nicht zu erfahren.
Erst gab ich Bryonia C30, ohne Erfolg. Nur eine Maximaldosis Novalgin erleichterte ihren Zustand. Am nächsten Tag wurde der Schmerz als stechend beschrieben, Liegen war beschwerlich ebenso wie tiefes Atmen. Nun erhielt sie Kalium sulfuricum C200, in der Hoffnung, damit Schmerzsymptome und Konstitution zu erreichen. Am dritten Tag präzisierte sie ihre Schmerzbeschreibung dahingehend, dass schon die geringste Kopfbeugung einen starken Schmerz mit interkostaler Ausstrahlung hervorrufen würde: Im Kent [7] findet sich unter Rückenschmerz, dorsal, beim Beugen nach vorne nur Cimicifuga, im dritten Grad.
Eine Gabe C200 bannte ihren Schmerz binnen zwei Stunden! Der erhoffte Einfluss auf ihr übriges Leiden trat zwar ein, währte aber nur drei Tage lang, so dass die Suche nach dem wahren Konstitutionsmittel weiter geht.
Die letztgenannten drei Fälle, beispielhaft für Akutmittel, zeigen, dass auch in chronischen Leiden bei mehr oder weniger gutem Erfassen der konstitutionellen Behandlungslinie eigenständige Beschwerdebilder auftreten können, die eine ganz spezifische Akutarznei erfordern und nicht mehr über den miasmatischen Hintergrund zu lösen sind, sondern nur über die Symptomendetails, die uns die Homöopathie in den letzten 200 Jahren in ihren Arzneimittelbildern zur Verfügung gestellt hat, wofür wir zu großem Dank verpflichtet sind.
Und anhand der ersten drei Krankheitsverläufe wollte ich zeigen, wie miasmatische Überlegungen mir zur verfeinerten Auswahl subtiler mineralischer Arzneien verhelfen. Es sind dies vornehmlich komplette Salze, kombinierte Arzneien, welche u.a. von Schüssler [10] eingeführt wurden, die von Kent [5,6] sehr geschätzt und um weitere Salze ergänzt wurden, die uns auch Scholten und Sankaran auf ihre Weise zugänglich machen und denen jüngst auch die Kollegen Springer und Wittwer ein Buch gewidmet haben [13]. Sie sind für mich die Grundlage der Behandlung hereditär-miasmatischer Fälle, werden gut durch die entsprechenden Nosoden unterstützt und bedürfen, was darzustellen meine Absicht war, durchaus der Ergänzung durch kleinere Arzneien nicht-miasmatischer Ausrichtung – man muss halt das Gespür dafür entwickeln, wann welche Ebene ihren Einsatz hat.
Bamberg, im Juli 2008
Drei Fälle chronischer Erkrankungen, die mit mineralischen Arzneimitteln unter Zuhilfenahme miasmatischer Überlegungen behandelt werden, stehen weiteren drei Fällen gegenüber, die lediglich aufgrund ihrer Akutsymptomatik gelöst werden.
Miasmen, kombinierte Arzneien, Akutbehandlung.
Three cases of chronic disease, which are treated with mineralic remedies with the help of miasmatic theories, are opposite to further three cases, which are solved only by the acute symptoms.
Miasms, combined remedies, acute therapy.
Symptom oder Pathologie: Repertorisation (PDF)
Bisher unveröffentlicht