Es ist eine gängige Auffassung in der Homöopathie, dass bei der Behandlung eines Patienten auch in chronischen Fällen oft nur eine Arznei angezeigt ist, die über längere Strecken gegeben den Patienten genesen lässt. James Compton Burnett (1840-1901), ein entschlossener Verfechter der Homöopathie, praktizierend in London, war da anderer Auffassung. Was er uns hinterließ, sind eindrucksvolle Dokumente von erfolgreicher Heilung gutartiger wie bösartiger Tumoren. Und bei diesen Kuren variierte er sehr seine Mittelwahl, je nachdem wie die Behandlung sich entwickelte und welche Einflüsse auf den Zustand des Patienten er sah. Er berücksichtige nicht nur die Konstitution, sondern auch alle Arten von Traumatisierungen, die dann mit Ignatia z. B. beantwortet wurden, er bedachte vorangegangene Impfungen, die ihn zur Gabe von Thuja veranlassten, und neben vielen kleineren, organotropen Arzneien stützte er seine Behandlung vor allem auf die Gabe verschiedener Nosoden. ”…Habe ich gelernt, meinen Hut an jeden Nagel zu hängen, den ich finden kann”, beschreibt er seine Arbeitsweise.
Auch einer anderen Denkweise, die auch die Gegenwartshomöopathie kennzeichnet, erteilte er eine Abfuhr, nämlich der Ansicht, dass für jede Krankheit jede Arznei hilfreich sein könnte, wenn denn nur die gesuchte homöopathische Ähnlichkeit vorläge. Er prägte den Ausdruck vom Haltepunkt eines Arzneimittels und meinte damit, dass nicht jede Arznei so weit in ihrer Wirkung ausholen würde, dass sie auch schwere Pathologien, insbesondere Tumoren, erreichen könnte. In diesem Zusammenhang bezeichnete er Nux vomica und Pulsatilla als Kinderpistolen.
Auch ich bin der Auffassung, durch Erfahrung bestärkt, dass man mit Nux vomica keine Migräne heilt, mit Pulsatilla kein Rheuma und mit Belladonna keinen Krebs. Auch Gerhard Risch, 1998 verstorbener Pastor und Homöopath aus Hamburg, äußert sich in dieser Hinsicht eindeutig in seinem wirklich lesenswerten Vorwort zu Yves Labordes Buch über Die hereditären chronischen Krankheiten. Er postuliert, dass nur zehn Prozent unserer Arzneien wirklich geeignet wären, chronischen Krankheiten gerecht zu werden.
Ausgehend von diesen Grundlagen konzentrierte ich mich in meiner Arbeit über viele Jahre darauf, bei chronischen Krankheiten, sei es Rheuma, MS, Neurodermitis oder gar Tumorerkrankungen, mein Heil in erster Linie in konstitutionell wirksamen Arzneien zu suchen, und das sind für mich vor allem die mineralischen Mittel, und konkreter gemeint - davon ist nun meine spezielle Arbeitsweise geprägt -, die kompletten Salze. Jüngst schrieb Anton Drähne, ein namhafter Gynäkologe und Homöopath aus Bonn, in der Allgemeinen Homöopathischen Zeitung seine Auffassung nieder, ”dass bei einer chronischen Erkrankung … nicht nur eines, sondern meist mehrere Miasmen vorliegen”. Und so bin ich persönlich der Auffassung, dass die salzartigen, kombinierten Arzneien deshalb so brauchbar sind, weil sie eben mindestens zwei Miasmen gerecht werden. So kann man z. B. in Natrium sulfuricum das Wirken sowohl der Sykose als auch der Psora erkennen, und so verwundert es nicht, dass bei einer Stagnation des Heilungsverlaufes etwa bei einem Kind mit Neurodermitis und Asthma bronchiale sowohl die Nosode der Sykose, also Medorrhinum, als auch die Nosode der Psora, also Psorinum, den Heilungsverlauf voranbringen können und somit wirkungsvolle Ergänzungen der Hauptarznei darstellen. Natrium sulfuricum wäre hier also das Rückgrad der Behandlung, die Nosoden aber als flankierende Maßnahmen unentbehrlich.
Viele Jahre ist es her, dass ich in einem Seminar über rheumatische Erkrankungen fast ausschließlich von Rhus toxicodendron, Bryonia oder Ledum hörte. Nicht nur dass mir diese Empfehlungen nicht sehr glaubwürdig erschienen, mich alleine darauf zu stützen half mir auch im Praxisalltag kein bisschen weiter. Es sind und bleiben dies relativ kurz wirkende Akutmittel – ich möchte sagen: Zustandsmittel -, und eine nachhaltige Heilung ohne Berücksichtigung der Konstitution, d. h. der chronisch miasmatischen Grundgegebenheiten, erscheint mir daher unwahrscheinlich. Und doch musste ich irgendwann zu diesen Empfehlungen zurückkehren, denn auch mit der alleinigen konstitutionellen Therapie blieb ich in manchem Falle stecken. Und so ist es mir heute zur Selbstverständlichkeit geworden, eine Behandlung schwerer chronischer Pathologien auf mehrere Füße zu stellen. So bedenke ich also von vornherein nicht nur mineralische Arzneien für die Grundkonstitution, passende Nosoden zur Berücksichtigung der genetischen Altlast und akute, kleinere Arzneien vor allem pflanzlicher Herkunft zur Berücksichtigung der vordergründigen Symptomatik oder gegebenenfalls von Krankheitsauslösern. Das kann Rhododendron sein bei Rheuma, Ignatia oder Staphisagria bei psychischen Traumatisierungen, oder Conium, Asterias rubens etc. bei Tumoren der Brust. Nur all dies zusammen erlaubte mir bisher wirkliche Fortschritte bei derlei schweren Erkrankungen. Und so packe ich also von vornherein mehrere Pfeile in meinem Köcher.
Stelllvertretend für viele Behandlungen möchte ich folgenden Krankheitsfall anführen:
Ein 1948 angeborenen Patient kam über viele Jahre lediglich zur hausärztlichen Betreuung zu mir, ohne dass ein Interesse zu einer grundlegenden konstitutionellen homöopathischen Therapie vorlag. Gewiss waren es keine völlig harmlosen Geschehnisse, die ihn bisher betrafen, aber er war auch nicht der Typ, der mit fliegenden Fahnen zur Homöopathie überlief. So hatte er einmal eine Pneumonie, die ein Antibiotikum erforderlich machte, später auch eine Tonsillitis, schließlich leichtere Ekzeme und darüber hinaus auch vorübergehende Alkoholprobleme, die er jedoch aus eigener Kraft in den Griff bekam. 2005 aber überraschte ihn ein unangenehmer Schwindel mit der Folge von Schwäche in beiden Armen und schließlich einer bleibenden Sensibilitätsstörung der rechten Hand dergestalt, dass er von einem Brennen im rechten Unterarm berichtete und einer auffallende Empfindlichkeit der Fingerspitzen. Eine neurologische Untersuchung ergab den Verdacht auf eine vorübergehende Durchblutungsstörung im Hirnstamm mit nachfolgenden neurologischen Ausfällen. Da dieses Geschehen nun doch Grund zur Beunruhigung gab, bot ich ihm eine Anamnese an, die er im Jahr 2006 mitmachte..
Homöopathische Anamnesen sind für einen Arzt, der seinen Beruf und die Patienten ernst nimmt, äußerst befriedigende Möglichkeiten, sein Gegenüber wirklich gründlich kennen zu lernen. Der Patient bleibt nicht mehr lediglich der Fall von Diabetes oder Hypertonus, und die Kenntnis seiner Biographie schafft die Voraussetzungen für ein vertrauensvolles Verhältnis. Andererseits ist es erschütternd, was einem oft an Lebensläufen zu Ohren kommt. So war auch die Kindheit dieses Patienten von schlimmen Erfahrungen geprägt. Der Vater war Alkoholiker, tyrannisierte die Familie in trunkenem Zustand, was seinen Gipfel darin fand, dass er mit einer Axt durch eine Zimmertür brach, hinter der sich die Mutter mit ihren Kindern verbarrikadiert hatte, um schließlich die Mutter vor den Augen der Kinder zu vergewaltigen. Die Mutter starb mit fünfzig Jahren, sie war verbraucht nach zwölf Schwangerschaften mit vier bis fünf Fehlgeburten. Der Patient war elf Jahre alt, als die Mutter starb, er ging gerne in ein Internat, um Abstand von der Familie zu gewinnen. Ein Bruder starb an plötzlichem Kindstod, eine ältere Schwester an einer schweren Autoimmunerkrankung. Mein Patient studierte nach dem Abitur zunächst Theologie, geriet aber in Konflikte mit seiner Berufswahl und erkrankte schließlich an einem Morbus Crohn. Davon konnte er sich befreien, indem er seine akademische Laufbahn beendete und sich einer praktischen handwerklichen Tätigkeit zuwandte. Politisch wurde er aktiv bei einer stark links orientierten Partei.
Für mich wurde hier eine Manifestation des syphilitischen Miasmas offenkundig, die nicht nur den Vater prägte mit seinem destruktiven Alkoholismus, sondern sich auch bei meinem Patienten zeigte, der ebenfalls mit Alkoholproblemen behaftet war und nun durch neurologische Ausfälle dieses Miasma bestätigte.
Ich behandelte zunächst mit Goldsalzen, vor allem Aurum sulfuratum, ergänzt durch Syphilinum, und konnte erreichen, dass die Sensibilitätsstörungen des rechten Armes und der rechten Hand wieder vollständig verschwanden. Zu Beginn des Jahres 2008 aber entwickelte er eine ausgeprägte rheumatische Polyarthritis mit entsprechenden Entzündungszeichen in der Blutuntersuchung. Nun kam ich mit Aurum sulfuratum nicht mehr weiter, fand schließlich aber zu Mercurius sulfuricus, was eine gute Linderung der Gelenksbeschwerden erwirkte. Mercurius ist ebenso wie Aurum als Schwermetall eindeutig eine Arznei der Syphilinie, und auch bei den Schwermetallen hat es sich für mich als günstig erwiesen, kombinierte Arzneien zu wählen, in diesem Fall als Kombination mit Sulfur, nachdem in seiner Vorgeschichte eine Ekzembereitschaft aufgefallen war und nachdem auch bestimmte Herzbeschwerden auf Sulfur schon früher verwiesen hatten. Jedoch: Nicht jede Gabe von Mercurius sulfuricus, im allgemeinen als C200 Hahnemann oder LM Korsakov gegeben, führte voran, vielmehr traten immer wieder Stagnationen auf, die vereinzelt durch die Nosode Syphilinum wieder gelöst werden konnten. Aber auch dies reichte nicht aus. Schließlich stellte ich fest, dass nicht nur ein deutlicher Anlaufschmerz gegeben war, sondern auch ein erschwerender Einfluss feuchten Wetters im Spiel war, und fand so zu Rhus toxicodendron als einer Arznei, die den lokalen Beschwerden gerecht wurde. Und so erhält er heute, fast wie nach einem Rotationsprinzip, die drei Arzneien Mercurius sulfuricus, Syphilinum und Rhus toxicodendron. Und damit erzielten wir weitgehend Schmerzfreiheit, konnte seinen Analgetikabedarf stark zurückgenommen werden, und verschwanden auch die stark belastenden nächtlichen Wadenkrämpfe.
Und als ich ihm, dem linksaußen politisch Hochaktiven, sein Arzneimittelbild erklärte und erwähnte, dass im Synthetischen Repertorium von Barthel unter der Rubrik Revolutionär dreiwertig Mercuris aufgeführt sei, grinste er vergnügt.
Bamberg, im September 2009
Veröffentlicht in der "Homöopathie aktuell" Ausgabe 3/2010