Das Wasser, im wissenschaftlichen Sinne, ist tatsächlich nur ein Molekül aus Wasserstoff und Sauerstoff, angereichert mit Mineralien, Kohlendioxid und Luftsauerstoff. Auch Verunreinigungen gehören dazu. Das Wasser im poetischen, irrationalen Sinn ist aber Wolken, Regen, Bach, Fluss und Meer – Quelle und Grundlage allen Lebens. Diese zwei Betrachtungsmöglichkeiten müssen uns immer bewusst sein. Was ist das Leben? Die Wissenschaft hat dazu keine Antwort.
In meinem Pflegepraktikum als junger Medizinstudent begegnete ich erstmals dem Tod. Ältere Männer zogen mich an ihr Bett und erzählten mir von ihrem Lebensweg. Wenige Tage darauf sah ich sie sterben und wurde fundamental erschüttert durch die Veränderung. Was zuvor warm und lebendig war, geistig präsent und zugewandt, blieb nun nur mehr kalte Materie. Das, was man eine Seele nennt, war aus ihnen gewichen. Welche Wissenschaft kann uns den Unterschied erklären? Mir kam das jedenfalls vor wie die Holzpuppe Pinocchio, die wieder verstummt ist.
Ein lebender Organismus ist also mehr als Wasser, Mineralien, Aminosäuren und Enzyme. Was ist die treibende Kraft, die ein Samenkorn dazu veranlasst, auszusprossen zu einem Grashalm, sobald ihm Erde, Wasser und Wärme zur Verfügung stehen?
Hahnemann hat den Begriff der Lebenskraft eingeführt, die dritte Säule der Homöopathie neben dem Simile-Prinzip und dem Potenzieren durch Verdünnen und Verschütteln. Diese Lebenskraft, wissenschaftlich und materiell nicht fassbar, ist es, die im Falle einer Krankheit verstimmt ist und durch gleichfalls wissenschaftlich-materiell nicht fassbare Medikamente zurechtgerückt wird.
Es ist wohl ein Phänomen der Resonanz, das hier vorliegt. Gebe ich einem Patienten eine homöopathische Arznei, die ohne Bezug zu seinem Leiden ist, so kann er entweder keine Reaktion erfahren oder aber eine kurze, nicht nachhaltige Irritation, die man Arzneimittelprüfung nennt. Auf solchen Versuchen bei gesunden Probanden beruht ein Teil dessen, was man ein homöopathisches Arzneimittelbild nennt; man sucht so zu erfahren, welche Symptome eine Arznei hervorzurufen vermag, um damit die Indikation für ihren Einsatz am Kranken zu finden (der eben eine ähnliche Symptomatik haben muss). Andere Wege, zum Arzneimittelbild zu kommen, sind das Wissen um die toxische Wirkung der Ausgangssubstanz und die Erfahrung stattgehabter Heilungen durch das Mittel.
Viele Phänomene des Lebens scheinen auf Resonanz zu beruhen, etwa die Ausgestaltung von Pflanzenformen. Bestreicht man eine Glasplatte mit Metallspänen mit einem Geigenbogen, so gruppieren sich diese Späne oftmals zu Formen, die man aus der Natur kennt.
Im Gegensatz zum Patienten, der eine unpassende homöopathische Arznei erhält und keine oder wenig Reaktion zeigt, so regt das maximal zutreffende Mittel eine kräftige heilende Wirkung an. Aber es muss eine möglichst treffende Übereinstimmung sein. Man lässt eine Kompanie Soldaten nicht im Gleichschritt über eine Brücke laufen, der Marschtritt könnte die Schwingungen der Brücke so aufschaukeln, dass sie zusammenbricht. Ein schriller Ton kann ein Glas zum Bersten bringen, wie uns Oskar Mazerath aus Günther Grass‘ Die Blechtrommel zeigte. Ein gutes Medikament regt den Organismus kraftvoll zur Heilung an und klingt lange nach (daher auch die Gabe von Hochpotenzen nur im Abstand von einigen Wochen).
Ein Hinweis darauf, dass Resonanzen am Spiel der Kräfte beteiligt sind, zeigt mir der ärztliche Alltag: ich behandle ja viele Familien. Dass die Kinder konstitutionelle Eigenschaften der Eltern haben, via Vererbung, aber auch via Spiegelung, muss uns nicht verwundern. Erstaunlich finde ich aber, dass Paare in der Regel ähnliche homöopathische Arzneimittel brauchen, sich also möglicherweise über gewisse konstitutionelle Eigenschaften als sympathisch identifiziert, sich also über eine Art Resonanz gefunden haben.
Weil wir es mit der Lebenskraft zu tun haben, ist deren Entwicklung auch für die Beurteilung unseres Therapieerfolges besonders wichtig. Entscheidende Parameter hierfür sind so nicht messbare Faktoren wie Kraft und Vitalität, wie Schlafqualität, Antrieb oder Stimmungslage. Wenden sich diese Faktoren zum Guten, so ist das ein Beleg für die Richtigkeit unseres Weges; es steht dann aber zu erwarten, dass auch die konkreten körperlichen oder seelischen Störungen abzubauen sind. Dass aber eine gut geführte homöopathische Therapie nicht nur eine Wellness-Behandlung ist, nur einer aufmerksamen Zuwendung geschuldet, zeigen handfeste Verbesserungen nicht nur des Zustandes der Gelenke, der Haut, der Verdauungsorgane etc., sondern auch technischer Befunde wie Laborparameter oder Röntgenbild.
Während ich an diesem Kapitel arbeite, fällt mir ein Kalenderblatt in die Hand, das Georg von Keller zitiert; er praktizierte in Tübingen als einer der bedeutendsten Homöopathen des 20. Jahrhunderts (1919 bis 2003). Er schreibt: „Wenn wir einen Menschen behandeln, reparieren wir ihn nicht durch unsere Arzneien. Er ist kein statischer Gegenstand, sondern ein dynamisches Wesen. Wie der sichtbare Wirbelwind nicht aus Staub besteht, sondern Bewegung darstellt, so ist die in der Zeit fortschreitende Entwicklung das Eigentliche am Menschen.“
Unsere Therapie ist auch ein dynamischer Vorgang. Es gibt Patienten, die ich seit 20, 30 oder mehr Jahren betreue. Abgesehen davon, dass auch mein Wissens- und Erfahrungsstand bis heute einer permanenten Weiterentwicklung unterliegt, bedeutet auch das Begleiten des Patienten einen fortlaufenden Erkenntniszuwachs über seinen Charakter und seine Konstitution, oftmals auch eine stetige Nachbesserung der Therapie. Das Ergebnis ist diese Entwicklung, nämlich eine Reifung seiner Persönlichkeit und eine Befreiung von alten Krusten, die ihm die Genetik und Biografie verpasst haben – eine geistige und in der Folge auch körperliche Gesundung, die man heute Salutogenese nennt.