Einige Jahrzehnte Arbeit als Allgemeinarzt und in Ausübung der Homöopathie hat es bei mir gebraucht, gut über das Renteneintrittsalter hinausgehend, um ein tiefes Verständnis über den Hintergrund und die Bedeutung von Kranksein zu erlangen, will sagen, die Reife zu erwerben, die ein guter Arzt haben sollte. Die fundamentalen Erkenntnisse, gesammelt von vielen Generationen homöopathisch arbeitender Ärzte, waren mir eine unverzichtbare Hilfe dabei, das menschliche Naturell besser zu begreifen. Und so möchte ich mit diesem Aufsatz ein paar Fälle zusammenfassen, teils schon veröffentlicht, die in eindrucksvoller Weise das Wissen und die Segnungen unserer Heilmethode wiedergeben – mit dem Fokus auf dramatische jugendliche Entwicklungsstörungen.
Helen war sieben Jahre alt, als sie 1999 wegen eines juckenden Ekzems erstmals in unsere Praxis kam. Eine Kollegin gab Sulfur C200 und damit war das Problem zunächst gut bereinigt. Sieben Jahre später sprach mich ihre Mutter daraufhin an, dass ein Hirntumor aufgetreten sei, ein Ependymom von niedrigem Malignitätsgrad. Zunächst hätte ein neurochirurgischer Eingriff stattgefunden, der allerdings gewisse Gleichgewichtsprobleme und eine Augenmuskellähmung mit Doppelbildern nach sich gezogen hätte. Und die letzte zurückliegende Kontrolle habe ein erneutes Wachstum gezeigt, weshalb nun Bestrahlungen stattfinden würden. Helen war zu diesem Zeitpunkt 15 Jahre alt; die Mutter bat nun um Mitbehandlung.
Der Tumor konnte durch die Bestrahlung zwar verkleinert, aber nicht gänzlich beseitigt werden; man verständigte sich zunächst lediglich auf regelmäßige Kontrolluntersuchungen. Die nun von mir erhobene Anamnese ließ ein eher ängstliches Kind erkennen, dem eine deutliche Krebsangst zu schaffen machte, und dies wohl nicht erst seit der eigenen Tumorerkrankung. In allen neuen Unternehmungen oder auch in körperlichen Wagnissen wittere sie Gefahr. Sie sei sehr gesellig, pflege einen liebevollen Umgang mit ihren Freunden, erhalte viele nette Briefe und versorge ihre Klassenkameraden gerne mit Geschenken. Die Mutter erzog das Mädchen in dessen ersten Lebensjahren alleine; Helen war aber stets problemlos zu betreuen, wenn die Mutter arbeitete.
Sie pflege sich gut, achte auf modische und harmonische Kleidung. Von Wachstumsschmerzen war die Rede und von sehr häufigen Mittelohrentzündungen, auch gäbe es Phasen von Haarausfall. Die Familienanamnese zeigte eine genetische Belastung mit neurologischen Erkrankungen, so wäre der Opa mütterlicherseits an ALS erkrankt, ein Onkel mütterlicherseits sei geistig behindert, unter Halbgeschwistern aus einer späteren Familiengründung der Mutter sei ein Kind von nächtlichen Epilepsien betroffen. Die meisten der Symptome, die Helen aufwies, sprachen für Phosphor: ihre Ängste, ihre Geselligkeit, ihr Mitgefühl und nicht zuletzt der Hirntumor.
Dem Hirntumor als dem vorherrschende Lokalsymptom gewidmet, verordnete ich Conium in C200, später auch in C50.000. Diese Arznei ist nicht nur ein häufig gebrauchtes Tumormittel, sondern seine Indikation leitete sich auch ab aus den Schwindelerscheinungen, die die Erkrankung von Helen begleiteten.
Die Behandlung in dieser Form ging über drei Jahre, wobei immer wieder sorgfältig die Entwicklung des Mädchens hinterfragt wurde und auch mancherlei andere Arznei angedacht und auch versuchsweise eingesetzt wurde. Im Großen und Ganzen blieb es jedoch bei dieser Linie und der Tumor wurde zusehends kleiner.
Als Helen 18 Jahre alt war, änderte sich das Bild. Es traten wieder massive Hauterscheinungen auf, zunächst als juckende Bläschen, zwischen den Fingern und auch generalisiert, wobei Bettwärme den Leidensdruck verschlimmerte. Gleichzeitig wandelte sich das Verhalten von Helen; aus dem früher so lieblichen und rücksichtsvollen Mädchen brach eine Rebellion hervor und es kam zu vehementen Auseinandersetzungen mit der Mutter. Ich versuchte nun ein paar Wochen lang wieder Anschluss an die zuvor erfolgreiche Therapie zu finden, konnte aber erst mit Kalium sulfuricum die Hauterscheinungen gut und nachhaltig beruhigen. Diese Arznei wurde nun im Wechsel mit Psorinum und Carcinosinum gegeben.
Das Ekzem heilte aus, der Hirntumor verkleinerte sich weiterhin und das Verhalten harmonisierte sich allmählich wieder. Vorübergehend traten Gelenksschmerzen auf, schließlich auch Scheiden- und Blasenentzündungen, die sie ärgerten, nachdem sie doch nun einen Freund gefunden hatte. Schlafstörungen sowie mancherlei Ängste und Unsicherheiten meldeten sich ebenso wie Perioden von Herzrasen, aber all dies kam Schritt für Schritt zur Ruhe unter der neu gefundenen Behandlungsstrategie.
Schon viele Jahre habe ich mich mit dem karzinogenen Miasma beschäftigt und auch meine These vorgetragen, dass Kali-Salze die angemessenen Mineralien wären zur Beschwichtigung dieses Miasmas. Und auch darüber habe ich auch schon berichtet, dass viele meiner Patienten nicht nur ein Natriumsalz benötigen, womit vor allem das weit verbreitete, im Allgemeinen hereditär angelegte sykotische Miasma beruhigt wird, sondern dass quasi parallel dazu das karzinogene Miasma seine Spuren hinterlassen hat und dass eine definitive Lösung und Ausheilung nur dann erreicht wird, wenn eine zweigleisige, duale Behandlung stattfindet, entweder indem die eine Linie nach einer gewissen Zeit der Therapie die andere Linie ablöst, oder indem sogar beide Behandlungsstrategien ineinander verschränkt für ein Weiterkommen nötig sind.
Ich war mir lange im Unklaren darüber, woraus sich das karzinogene Miasma bei Helen begründet; es hatte sich ja schon in den hohen Krebsängsten gezeigt, aber auch in ihrem ausgeprägten Sinn für Ästhetik, schließlich in der großen Fürsorglichkeit und Unterordnungsbereitschaft, die sie als kleines Kind an den Tag legte. Erst als ihre Mutter mir ihren schwer geistig behinderten Bruder zur Behandlung vorstellte, begann ich die Familiengeschichte zu verstehen. Dieser Mann, Helens Onkel, war von Geburt an entwicklungsgestört, er wurde von seiner Mutter nicht besonders geliebt. Aus diesem Grunde übernahm Helens Mutter, seine Schwester also, die Fürsorge. Meine Interpretation geht dahin, dass Helens Mutter eine für einen jungen Menschen ungewöhnlich große Belastung übernehmen und frühzeitig hohe Verantwortlichkeit erlernen musste, und dass dieses Verhalten der Einprägung des karzinogenen Miasmas Vorschub leistete. Pflicht nämlich ist das passendste Schlagwort zur Beschreibung sowohl des karzinogenen Miasmas als auch der Kali-Salze.
Wie hat sich das aber auf Helen übertragen? Kann es sein, dass sie als Kind die Wesenszüge ihrer Mutter einfach übernahm? Oder hat sich Mutters Verhalten im Erbgut niedergeschlagen? Aktuelle Forschungen zeigen, dass Prägungen dieser Art, von unangemessenen Belastungen bis hin zu schweren traumatisierenden Erlebnissen, Spuren im Erbgut tatsächlich hinterlassen und sich den nachfolgenden Generationen einpflanzen können.
Ich neige längst zu der Annahme, dass Malignome, welcher Qualität auch immer, vor diesem Hintergrund gesehen werden müssen und möglicherweise stets für einen gewissen Teil des Behandlungsweges der Nosode Carcinosinum und der Gabe von Kalium-Salzen bedürfen. Hier liegt aber noch ein erheblicher Forschungsbedarf für uns Homöopathen vor. Helens vormalige Gefügigkeit passt in dieses Bild, aber auch ihre spätpubertäre Rebellion, die mir geradezu ein selbst inszenierter Akt der Befreiung zu sein schien. Sie richtete sich vor allem gegen ihre Mutter, die mir weiterhin in ihrer beherrschten, fürsorglichen, aber auch kontrollierenden Art noch von diesem karzinogenen Miasma gezeichnet zu sein scheint (und die mittlerweile wie ihr eigener Vater an ALS verstorben ist, all meinen intensiven Bemühungen zum Trotz).
Eine kleine Randbemerkung: Es war immer die Rede von Sehstörungen, die der neurochirurgische Eingriff bei Helen hinterlassen hätte. Aus diesem Grunde, so wurde mir erklärt, zeige Helen eine leicht gebeugte Kopfhaltung, dies würde ihr das Doppelsehen abschwächen. Ich hatte einmal Gelegenheit, das Mädchen unbemerkt studieren zu können, und mir schien, dass diese Kopfhaltung, die der Gebärde eines angriffslustigen Widders entsprach, eine geradezu kämpferische Attitüde hatte. Auch dieses würde ja zum karzinogenen Miasma passen.
Helen ist heute, nach 7 Jahren konsequenter homöopathischer Therapie, sehr stabil, um den Resttumor kümmert sich man fast gar nicht mehr. Neben der Strategie mit Conium, Kalium sulfuricum und Carcinosinum stellte sich später heraus, dass als weitere Maßnahme Natrium phosphoricum hilfreich war, indiziert und wiederholt erfolgreich eingesetzt wegen eines intensiven Sodbrennens.
Somit kam auch Phosphorus zu seinem Recht, wofür eingangs deutliche Hinweise gegeben waren. Aber weder diese Arznei noch das anfänglich gegeben Sulfur wären alleine in der Lage gewesen, dem Mädchen nachhaltig zu helfen.
"Wo werden Sie Ihren Sommerurlaub verbringen?", fragte ich Claudia. "In Florida", antwortete sie. Claudia S., 31 Jahre alt, stand schon ein halbes Jahr in meiner Behandlung, sie war an Multipler Sklerose erkrankt. Ein erster Schub dreieinhalb Jahre zuvor verursachte Sensibilitätsstörungen der linken Körperseite, nun gab es einen zweiten Schub mit Gefühlsstörungen der rechten Seite und einer vorübergehenden Lähmung des rechten Gesichtsnervs, was sie veranlasste, sich in homöopathische Behandlung zu begeben. Die Schulmedizin hatte sie auf die Injektion mit Rebif eingestellt, einem Interferon-Präparat (Kosten pro Jahr 20.000 €, wie alle Immuntherapeutika dieser Art meines Erachtens aber bei der MS völlig wirkungslos).
Meine erste Frage bei MS-Schüben gilt irgendwelchen Stressfaktoren als mögliche auslösende Ursache. Sie fühlte sich aber wohl in ihrem Beruf, obwohl sie, als Krankenschwester, Nachtdienste leisten musste. Zwei Jahre vor unserem ersten Kontakt allerdings war ihr Vater gestorben, dessen Hausstand sie und ihr Bruder aufzulösen hatten. Ihre Eltern hatten sich getrennt, als sie 12 Jahre alt war, und sie lebte danach bei ihrem Vater. Zur Mutter besteht kein schlechtes Verhältnis; diese begleitete sie immer bei ihren Arztbesuchen. Wenige Wochen vor Ausbruch des letzten Schubes hatte sie einen neuen Freund gefunden, der aber trotz der Erkrankung fest zu ihr hielt. Drei Jahre vorher war eine Beziehung zu Ende gegangen; die Schuld für das Scheitern suchte sie bei sich.
Ein paar Hinweise gab es für Silicea: Eine schlechte Zahnsubstanz mit guter Neigung zu Karies sowie zu Zahnwurzelabszessen und eine gewisse Reizbarkeit (heftig, wenn geärgert: Silicea). Vor allem aber ihre Erscheinung wies in diese Richtung: Sie ist eine kleine, zierliche Person mit einem sehr korrekten, strengen Äußeren. So trägt sie ihr Haar sorgfältig geflochten, hat eine aufrechte Haltung wie eine Balletttänzerin, achtet auf eine stimmige Kleidung und ist auch sonst auf Kleinigkeiten bedacht, was sie sich selbst als Charakterzug zuschrieb.
Im Falle einer Encephalomyelitis disseminata erlaubt das Ausbleiben von Rückfällen noch kein Urteil über die Richtigkeit der homöopathischen Arzneimittelwahl. Begleitende Symptome sind entscheidend, um den Verlauf bewerten zu können. Neben einem praemenstruellen Brustspannen hatte sie ein weiteres, bedeutendes Symptom, nämlich chronisch offene Mundwinkel. Da ihr Erscheinungsbild von den körperlichen Symptomen bis zu den charakterlichen Merkmalen für Silicea sprach, andererseits aber einige Details für Natrium muriaticum, wie z. B. eine Milchunverträglichkeit, begann ich ihre Behandlung mit Natrium silicicum. Doch der Fortschritt war gering, es änderte sich zunächst nicht viel an ihrem Befinden.
"Was zieht Sie nach Florida", war meine Frage. "Dort gibt es die größten Achterbahnen der Welt, und ich reise überall hin, wo große Achterbahnen stehen".
Was bedeutet nun diese Aussage für den Homöopathen? Suche nach Grenzerfahrung, war meine Interpretation und lenkte mich zu Carcinosinum. Hatte sie denn sonst Hinweise auf das karzinogene Miasma? Die Schuldgefühle etwa nach der Trennung von einem früheren Freund? Aber möglicherweise auch, und das wurde mir erst jetzt bewusst, die Position innerhalb ihrer Familie: Sie zog nach der Trennung der Eltern zu ihrem Vater, übernahm vielleicht dort nicht nur Verantwortung für ihn, sondern auch gewissermaßen die Rolle der Ehefrau, beides unangemessen für ein junges Mädchen.
So fiel meine Entscheidung für das weitere Vorgehen bei Claudia S. auf Kalium silicicum. Und tatsächlich heilten alle bestehenden Probleme schrittweise unter dieser Medikation aus: Die Mundwinkel kamen zur Ruhe, ebenso das Brustspannen, und das ganze Befinden stabilisierte sich, MS-Erscheinungen traten nicht mehr auf, Kontrolluntersuchungen konnten keine weiteren Herde nachweisen.
Ich kannte sie bereits als junges Mädchen, nun ist sie schon über 50 Jahre alt. Sarah leidet an Multipler Sklerose und es ist mir nicht gelungen, ihren langsam fortschreitenden Verfall überzeugend aufzuhalten (vielleicht wäre ohne mein oder der Schulmedizin Zutun manches schlechter – man weiß es nicht). Das Gehen bereitet ihr Schwierigkeiten, außerhalb des Hauses benützt sie einen Rollstuhl. Was mich aber am meisten herausfordert, ist ihr Tremor. So fällt es ihr nicht leicht, selbständig die Speisen zum Mund zu führen; sie benutzt dafür beide Hände. Manchmal lässt sie sich helfen, und darüber äußerte sie sich einmal in einer Weise, die mich erschüttert hat: „Es ist gar nicht so schlecht, gefüttert zu werden“.
Redet sie sich die Lage nur schön? Oder genießt sie den sekundären Krankheitsgewinn? Ich gönne mir so gut wie nie, einem Patienten mangelnden Heilungswillen zuzuschreiben, um mein Versagen zu rechtfertigen – so wie man gewöhnlich etwa im Falle eines Rentenbegehrens kaum eine Heilungschance sieht. Mich treibt aller Ehrgeiz an, ihre Eigenständigkeit zu erhalten. Aber wir hatten schon den Eindruck, dass sie die Aufmerksamkeit genießt, die ihr durch die Krankheit zu statten kommt: viel Physiotherapie, aber auch eifrige Neurologen, die ihr immer die neuesten MS-Medikamente verabreichen – teuer und ohne jeden Nutzen.
Ihre Familie war problematisch, der Vater anscheinend ein Hallodri, der sich z.B nicht scheute, eine Todesanzeige seiner eigenen Mutter, obwohl noch gar nicht verschieden, in die Zeitung zu setzen, damit er ein paar Tage nicht zur Arbeit gehen musste. Die Eltern trennten sich, als sie 6 Jahre alt war, die Mutter musste hart arbeiten, um zu überleben, und das Mädchen sah offenbar keinen Spielraum für eigene Ansprüche. Sie verhielt sich auffallend unauffällig, so wurde sie beschrieben.
Ich fand gute Gründe für meine Verordnungen, konnte die MS aber nicht ausbremsen. Kann es denn sein, dass sie mit dieser Krankheit – ein späterer Partner der Mutter litt (und starb) auch daran – sich die Aufmerksamkeit nachholt, die ihr damals nicht gegeben war?
Die schwersten Fälle, die ein Leben lang an uns Homöopathen haften, sind die Schattenkinder. Jene, die wegen schwieriger oder belasteter Eltern, noch mehr wegen Geschwistern, die wegen Krankheit oder aus anderen Gründen alle Aufmerksamkeit auf sich ziehen, einfach zu kurz kommen. Und hier gewinnt ein Satz von Giovanni Maio, einem geachteten Medizin-Ethiker aus Freiburg, seine besondere Bedeutung: „Wir können bei einem Patienten alles Mögliche untersuchen, anordnen oder behandeln und doch bleiben all diese Herangehensweisen fruchtlos, wenn sie nicht von Zuwendung begleitet sind. Denn all diese Verrichtungen können nicht vermitteln, worum es bei der Therapie geht: um die Zusicherung, dass die betreffende Persson es wert ist, sich mit ihr zu beschäftigen“.
Dieses selbstschädigende Verhalten junger Menschen, überwiegend bei Mädchen erlebt, für das sich schwerlich eine Erklärung findet und noch schwerer eine Therapie, kommt auch in unseren Praxen an mit dem Wunsch nach Hilfe. Familiendramen liegen auch hier oft vor, sei es von den Kindern selbst erfahren, sei es in den Generationen zuvor erlebt. Scheidungskinder sind davon vor allem betroffen.
So war ich ziemlich erfolglos im Falle der damals knapp 20 Jahre alten Maria, deren Eltern mit viel Streit auseinandergingen. Monatelang, in der Summe in Jahren zu rechnen, war sie in verschiedenen psychosomatisch arbeitenden Kliniken untergebracht wegen ihrer Magersucht. Und bei der Durchsicht ihrer Akte – seit 10 Jahren habe ich sie gar nicht mehr gesehen – lese ich auch von Ritzen oder Zigaretten auf der Haut Ausdrücken. Irgendwann hat sich das Blatt gewendet und sie fand zu einem normalen Leben zurück, wie mir ihr Vater berichtet.
Meine Arzneimittelwahl enthielt zwar auch die Elemente, mit denen ich in den folgenden Fällen einen günstigen Einfluss nehmen konnte, aber die Gesamtstrategie war noch nicht so ausgereift, wie ich sie heute einsetze – mehr dazu weiter unten.
18 Jahre war Elli alt, als sie mir die tiefen Schnitte zeigte, die sie sich mit einer Rasierklinge brutal quer über den Oberschenkel zufügte. Wir unterhielten uns über ihre Suizidneigung und über nicht weiter präzisierbare grauenvolle Gefühle. Auch später war immer wieder von Depressionen die Rede, manchmal auch von leicht paranoiden Wahrnehmungen. Allerdings: Das Ritzen stellt sie schlagartig ein nach einer Gabe Natrium arsenicosum C200!
Die weitere Betreuung war eher sporadisch, so dass ich gar keine längere kontinuierliche Behandlung vornehmen konnte; diese war eher dem Psychotherapeuten vorbehalten. Elli hat mittlerweile auch ihren Weg gefunden. Ein wirkliches Drama in ihrer Familie konnte ich nicht erkennen, allerdings schien mir ihre Mutter einiger Not ausgesetzt gewesen. Nach meinem Wissen haben deren türkische Eltern sie etwa mit 17 Jahren mit weiteren jüngeren Geschwistern nach Deutschland geschickt, bevor sie selbst erst viele Monate später einwanderten. Die Mutter musste sich, noch kaum erwachsen, hier alleine durchkämpfen und gleichzeitig die Verantwortung für die Kleineren übernehmen. Mag sein, dass darin die Quelle familiärer Altlasten lag.
Eher genetisch-syphilitische Voraussetzungen dürften dem Verhalten von Rosa zugrunde liegen. Eigentlich ein sehr nettes Mädchen, hat sie im Alter von 12 Jahren eine Magersucht entfaltet, weshalb sie mir anvertraut wurde. Sie war schon stark abgemagert, ich zögerte aber mit einer stationären Einweisung, denn diese wäre nur mit Zwang möglich gewesen. Schließlich scheint es mir wichtig, das Vertrauen nicht unnötig zu brechen, dafür gehe ich auch ein gewisses, aber genau kalkuliertes Risiko ein. Ein Psychotherapeut hat mich dafür heftig gescholten.
Carcinosinum, Kalium phosphoricum und schließlich Natrium arsenicosum waren die Arzneien, die der Anorexie rasch ein Ende bereiteten. Später aufgetretene Darmkoliken beruhigten sich gleichfalls unter diesen Arzneien. Was ich nicht abwenden konnte, unter anderem, weil sie irgendwann keine Behandlung mehr wollte, war ein hochaggressives Vorgehen, vor allem gegen ihre eigene Mutter – wie auch immer das psychologisch interpretiert werden kann. Letztlich hat sie aber das Verhaltensmuster ihres eigenen Vaters übernommen, der seine Frau auf die schrecklichste Art fortlaufend demütigt. So weit ich es beurteilen mag, spielt in dieser Familie das syphilitische Miasma, Generationen übergreifend, eine gewichtige Rolle.
Ihre Schwester, Gudrun, jetzt 17 Jahre alt, sparte auch nicht mit Schwierigkeiten. Wochenlang verweigerte sie den Schulbesuch, lag nur im abgedunkelten Zimmer und wollte niemanden sehen. Auffallend war ihre Weigerung, sich zu waschen. Und irgendwann begann sie: sich zu ritzen! Sie stimmte schließlich einer mehrwöchigen Behandlung in einer psychosomatischen Tagesklinik zu, und ich gab ihr Kalium sulfuricum und Natrium arsenicosum, zwischendurch Psorinum und Syphilinum. Der Leser müsste meine Motivation mittlerweile verstehen: Arsen wegen der Selbstverstümmelung und Sulfur wegen der Wasserscheu; und das in salzartiger Verbindung mit Natrium und Kalium gemäß meiner Vorliebe für Salze im Rahmen meines dualen Weges. Schließlich noch 2 Nosoden für die Miasmen, die hier im Hintergrund wirken.
Jetzt geht sie wieder mit Freude in die Schule, pflegt reichlich Gesellschaft und hat nun einen Freund. Hätte ich die Dualität von Natrium- und Kalium-Salzen schon im ersten Fall dieser Art verstanden gehabt, wäre auch diesem Mädchen vielleicht eher zu helfen gewesen. Das vermutlich indizierte Kalium phosphoricum als eine parallele Linie einzusetzen, das war mir damals noch nicht geläufig.
Und dieser Tage wurde ich konsultiert wegen der 12-jährigen Britta, die gleichfalls in die Magersucht abzudriften droht. Das Drama sah ich darin, dass die Eltern zwar zusammenleben, in ihren Beziehungen aber getrennte Wege gehen. Der eigentliche Fehler liegt aber meines Erachtens in dem Umstand, dass der Vater sich in seiner Not bei dem Mädchen ausweinte. Das Resultat ist eine Parenterifizierung, was heißt, dass das Mädchen eine fürsorgliche Rolle übernimmt, der es nicht gewachsen ist, und schlimmer noch, es machen sich Schuldgefühle in ihr breit, die in Selbstbestrafung münden. Hiermit beginnt der Teufelskreis. Meine erste Maßnahme war, neben einer gründlichen Beratung der Mutter, die Gabe von Carcinosinum C200* mit der Maßgabe strenger regelmäßiger Konsultationen (*burdened with responsibility at too young of age – Murphy).
Im März 2015 Jahren wurde mir die damals 35-jährige Patientin Hannah anvertraut wegen einer schweren, chronischen Migräne. Die Anfälle wären häufig, schon seit Kindheit an; damals meist am Wochenende, zeitweise sogar täglich; schlimmer bei Wetterwechsel von kalt zu warm; begleitet von Lichtscheu. Natrium sulfuricum fällt einem hierzu ein, bestätigt durch einen Husten bei nass-kaltem Wetter.
Zu dieser Arznei passte auch ihr zweiter Beschwerdekomplex, ihre ekzematöse Haut, gelegentlich sogar als Schmetterlingserythem im Gesicht imponierend. Zudem beklagte sie Schlafstörungen mit Wachphasen von 2 bis 4 oder 5 Uhr, was wir sogleich mit Kalium carbonicum assoziieren. Ergänzende Anmerkungen waren eine Angststörung, etwa beim Autolenken, und ein nächtliches Zähnepressen.
Aufschlussreich war allerdings ihre Biografie: Die Mutter war gefühlskalt, es gab keine Liebe zuhause (hier werden ihre Augen feucht); von ihren Kopfschmerzen, derentwegen sie viel Zeit im Bett verbringen musste, nahm keiner Notiz. Während die Mutter Kaffeekränzchen besuchte, durfte sich unsere Patientin um alles Häusliche kümmern, um ihre Geschwister, auch um ihren häufig betrunkenen Vater: eine klassisches Szenario für die Implementierung des karzinogenen Miasmas, was auch ihr Pflichtbewusstsein begründet, ihre Versagensängste, ihre Träume von Bedrohung, Mord und Totschlag und davon, ihren Vater retten zu müssen.
Dass sie sich gerne im Wind aufhalte, bestätigte mir die Nähe zu Pulsatilla /Sulfur (was ich zusammenzuwerfen pflege), andererseits gibt ihre Zugluftempfindlichkeit einen Hinweis auf ein Kalium-Salz und ihre Liebe zum Meer auf Carcinosinum; das starke Verlangen nach Schokolade passt auch hierzu. Wenngleich ich bei meiner handschriftlichen Auswertung alle Symptome berücksichtige, so lenken doch vor allem die hier angeführten Keynotes meine Entscheidungsfindung.
Ich eröffnete die Behandlung mit Kalium sulfuricum C200 wegen eines damals vorherrschenden Tubenkatarrhs, der für diese Arznei ein wichtiges Schlüsselsymptom ist. Der Kopfschmerz beruhigte sich, der Schlaf wurde besser und das Schokoladeverlangen ließ nach. Allerdings war in diesen anfänglichen Behandlungstagen eine erste Schwangerschaft eingetreten, die mit einem Frühabort endete. Es folgten eine zweite und dritte Gabe Kalium sulfuricum C200, worauf sich, nach jetzt 3 Monaten, das Beschwerdebild änderte bzw. präzisierte: der wieder auftretende Kopfschmerz wurde nun als eine Schmerzkette beschrieben von der Schulter über Nacken und Ohr bis hinauf zum Kopf, alles links.
Dies erinnerte mich an den neuralgischen Schmerzcharakter von Jodum, deshalb wechselte ich jetzt zu Kalium jodatum, zunächst in C200 (8 Gaben), später in LMK (9 Gaben), zuletzt in CMK (4 Gaben). Die zweite Linie meiner dualen Strategie fuhr ich mit Natrium sulfuricum, 3 mal in C200, 12 mal in LMK, 3 mal in CMK; anfangs im Wechsel der Salze, später abhängig von der vorherrschenden Symptomatik entschieden. Ergänzend erhielt sie als Zwischengaben Carcinosinum C200 (3 mal) und einmal in LMK, ferner Psorinum C200 (3 mal) und einmal in LMK, auch einmal Syphilinum C200.
Nach langen knapp 6 Jahren mit stetigem Abbau der Beschwerden ist die Patientin heute in einer stabilen Verfassung; die Haut ist rein, der Kopfschmerz selten und erträglich, der Schlaf gut. Mit einer letzten Gabe von Kalium jodatum CMK im Januar 2021 wurde die Behandlung abgeschlossen. Bald nach meinem anfänglichen Mittelwechsel wurde sie erneut schwanger und ist nun Mutter eines kräftigen Jungen, der allerdings in gesundheitlicher Sicht sein Erbe nicht verschweigen kann: Diarrhoe-Neigung, Asthma, Schlafunterbrechungen und gelegentlicher Jähzorn kennzeichnen ihn und veranlassten mich, ihm die gleichen Mittel zu geben wie seiner Mutter.
Bamberg, im September 2023