Ein exotisches Meeresmittel ist Sepia zwar nicht, aber ich weiß, dass es von Homöopathen gerne verordnet wird. Das gilt allerdings nicht für mich, denn, wenngleich ich darin vor allem eine Arznei für einen bestimmten Zustand sehe, zeitlich begrenzt, so fand ich es bisher nicht geeignet für eine grundlegende konstitutionelle Behandlung. Für Frauen – und nur für Frauen – schien es mir angebracht in Zeiten hormoneller Umstellung, etwa nach einem Abort, nach einer Schwangerschaft oder im Klimakterium. Im Übrigen hielt ich es mit Dario Spinedi, der sagte: Wo Sepia steht, da steht Natrium muriaticum daneben.
Immerhin gibt es eine große gemeinsame Schnittmenge dieser beiden Arzneien, und nachdem mich die Tinte des Tintenfisches schwer enttäuscht hat, etwa in Fällen, wo es von A bis Z von allen Beschwerderubriken abgedeckt war, aber kein bisschen geholfen hat, habe ich mir angewöhnt, bei der Repertorisation Sepia den Natrium-Salzen zuzuschlagen.
Nun habe ich aber in einem Fall schweren, anhaltenden Leidens mit Sepia eine frappierende Erlösung erlebt, nicht nur für die Patientin, sondern auch für mich als dem Behandler, der über Monate hinweg sich dem Frust unzureichender Hilfe ausgesetzt sah.
Sicher: die Patientin wirkte schon immer sehr burschikos, sie ist groß und schlaksig, ich habe sie noch nie in einem Rock gesehen, immer in Jeans. Sicher: ihre bisherigen Leiden, und ich kenne und betreue sie seit den ersten Tagen meiner Niederlassung, also seit fast 37 Jahren, waren schwere gynäkologische Probleme, an denen wir Monate, wenn nicht Jahre herumgedoktert haben. Das eine war ein riesen Myom, das so stark geblutet hat, dass ich ihr mühevoll mit wöchentlichen Eisenspritzen einen einigermaßen vertretbaren Hämoglobin-Spiegel aufrechterhalten konnte, bis endlich mit den Wechseljahren das Myom schrumpfte und die Blutung sistierte.
Das nächste war dann eine große Ovarialzyste, die operativ entfernt werden musste. Nach diesem Eingriff dauerte es allerdings Monate, bis sie sich wieder erholt hatte. Vor einem Jahr kam sie mir wieder mit einem akuten Abdomen. Im Ultraschall sah ich erneut eine große flüssigkeitsgefüllte Blase, weshalb ich sie unter dem Verdacht auf eine weitere Ovarialzyste wieder in die Klinik einwies. Es zeigte sich aber ein Bridenileus mit gestauten Dünndarmschlingen; jedenfalls wurde wieder eine Laparatomie nötig.
Von diesem Eingriff wollte sie sich aber nun gar nicht mehr erholen. Obwohl im Bauchraum und im Narbenbereich alles gut verheilte, so beklagte sie voller Verzweiflung fortbestehende schwere Narbenschmerzen, für die aber keine Ursache gefunden werden konnte. Weil ich niemanden mit seinen Beschwerden im Stich lasse, und wenn es für mich noch so unangenehm ist, und weil ich von keiner anderen Seite Hilfe erwartete in diesem Falle offenbar funktioneller Schmerzen, so stellte ich mich der großen Aufgabe und bestellte sie Woche für Woche ein auf der Suche nach einer Lösung. Und Woche für Woche trat mir eine zutiefst frustrierte Patientin entgegen, auf deren Gesicht der Vorwurf, ihr immer noch nicht aus ihrem Elend geholfen zu haben, deutlich genug abzulesen war.
Natürlich warf ich alle Natrium-Salze ins Spiel, wohlwissend, dass ein Natrium-Charakter nicht nur seelischen Schmerz nicht gerne vergisst, sondern auch ihm zugefügte körperliche Verletzungen. Ich ging angesichts dieses schwer depressiven Zustandes bis zu Aurum muriaticum natronatum – ohne Erfolg.
Es waren nicht nur die Schmerzen, die, ausgehend von der Narbe, ihr nachts den Schlaf raubten, es kam auch noch eine vehemente Schwäche hinzu und schließlich eine Art von Schwindel, so dass sie das Haus nicht mehr verlassen konnte ohne irgendeine Begleitung. Ihre monatelange Berufsunfähigkeit mündete schließlich in eine vorzeitige Pensionierung mit 63 Jahren, weil auch die begutachtende Amtsärztin keine Aussicht auf Wiederherstellung ihrer Dienstfähigkeit sah.
Der Katalog ihrer Beschwerden war groß; ich habe sie bei jeder Konsultation sorgfältig erfasst, stets in der Hoffnung, den zündenden Funken für eine Lösung zu finden: Heftiger Bauchschmerz im Bereich der Laparatomie-Narbe, glühend-heiß-stechend, Kleiderdruck verschlechtert, feuchtes Wetter verschlimmert; Unruhe nach dem Niederlegen und wach um 1 Uhr und um 4 Uhr; Schweißausbruch Punkt 14 Uhr, später am Nachmittag alle 2 Stunden, warme Speisen verschlechtern; Rhizarthrose und Achillodynie; Handtellerekzem, abschuppend; Hitze im Kopf und kalte Extremitäten, Tremor der linken Hand; Agoraphobie, um nur einige zu nennen.
An Medikamenten erhielt sie alle möglichen Salze, meiner schon öfter beschriebenen Arbeitsweise folgend, auch Nosoden, auch psychotrope Arzneien, weil immer dann, wenn ein Leiden so sehr allen Bemühungen widersteht, eine psychische Konfliktsituation oder ein Trauma gesucht werden darf.
Nach fast einem Jahr verzweifelten Kampfes um die Wiederherstellung ihre Gesundheit und eines freudigeren Lebens kam sie mir mit einem unspektakulären Symptom, das den Schlüssel für ihre Heilung lieferte: Frost um 16 Uhr – Sepia, zweiwertig als einziges Mittel!
Ich gab die Arznei in C200. 7 Tage später hielt sie mir einen Zettel unter die Nase mit folgendem Wortspiel: Endlich wieder F. Rei. (ihre Initialen) dank E.T. (meine Initialen). Sie verspürte wieder Kraft, der Schlaf war gut, die Schmerzen weg. Das ist jetzt 3 Monate her zum Zeitpunkt der Niederschrift; seither erhielt sie Kalium bichromicum C200 (ein Mittel, das ich ebenso wie Sepia sehr vernachlässigt habe und dessen Wert mir seit einigen Monaten erst richtig bewusst wurde; ich werde darüber schreiben müssen), später wieder Sepia C200 und in gleicher Potenz zuletzt erneut Kali-bi..
Der Grund für die intermittierende Gabe von Kali-bi. liegt in meiner Arbeitsstruktur, die in jedem chronischen Fall einen Wechsel von Kali-Salzen mit Natrium-Salzen vorsieht (in diesem Fall mit dem nahestehenden Sepia)[1], und die Entscheidung für Kali-bi. war dessen typische Wachzeit um 2 Uhr, und vielleicht hintergründig auch die Zähigkeit ihrer Beschwerden. Den Anlass für die weitere Gabe Sepia gaben diskrete Rückfallsymptome, die sich rasch danach wieder verloren.
Mir scheint, wir haben gewonnen. Und beim Rückblättern in ihrer dicken Akte fiel mir auf, dass die allerersten Mittelgaben vor fast 4 Jahrzehnten – ich war noch ein ganz naiver Anfänger – Sepia C200 waren...
Bamberg, im Juni 2022
[1] Trebin E.: Kann dieser Weg noch richtig sein