Diese Betrachtungsweise, nämlich dass ein chronisch Kranker durch sein Leiden in Form von Zuwendung einen sekundären Krankheitsgewinn und Aufmerksamkeit erreichen kann, ist mit allergrößter Vorsicht zu sehen. Sie könnte zu der Annahme verleiten, dass er selbst schuld ist an seinem Leiden, an Krebs etwa, Multipler Sklerose oder Rheuma.
In diesen Gedankenkonstruktionen geht es nie um Schuld, sondern um Schicksal. Aber diese schicksalshaften Erfahrungen können das Selbstwertgefühl, das Urvertrauen in sich selbst, dermaßen verletzen, dass dem Individuum das Recht verwehrt ist, ein glückliches und unbeschwertes Leben führen zu können.
Diese Verwundung sitzt nicht im Bewusstsein und auch nicht im Unterbewusstsein, sie hat ihre Wurzel noch tiefer im System. Beschädigt ist das Samenkorn unserer persönlichen Existenz, das was Hahnemann als Lebensenergie bezeichnet hat. Dorthin werden frühe traumatisierende Erfahrungen verschoben, von dort treiben sie ihr Unwesen.
Diese Quelle von Kranksein zu erreichen ist nicht leicht, die Forderung Giovanni Maios will aber in diese Richtung weisen, die Person in ihrer Lebensberechtigung zu schützen und selbstbeschädigende Folgen zu stoppen. Es ist eine Gnade, dass uns die Homöopathie Möglichkeiten in die Hand gibt, dieses Ziel greifbar zu machen über unsere Medikamente gegen das karzinogene Miasma.
Edward C. Whitmont, ein amerikanischer Psychoanalytiker und Homöopath, kritisierte unsere Heilmethode für den Fall, dass sie dem Menschen die Aufgabe der Selbstreflexion abnehmen würde. Ich meine, dass medikamentöse Therapie und die Wege der Selbsterkenntnis sich gut unterstützen und wunderbar ergänzen. Interessant finde ich, dass auch körperliche Symptome uns in unserer Heilmethode Rückschlüsse auf die psychische Struktur und die Charaktermerkmale der jeweiligen Person geben können, was wiederum dem Heilungsprozess dienen kann.
Jedoch bei beiden Wegen, so befürchte ich anhand meiner Beobachtungen, dürfte es Grenzen geben, selbst wenn man die oft extrem langwierige Behandlung in Kauf nimmt, die gerade für die fundamental traumatisierten Patienten erforderlich ist – ich spreche gerne von lebenslang. Wir Homöopathen sind auch nur ein Rädchen im Schicksalswerk unserer Patienten – und der liebe Gott gibt seine Fäden nicht immer gerne aus der Hand.
Bamberg, im Oktober 2023