Die Homöopathie steckt, fürchte ich, in der Krise. Obwohl sie bereits über 200 Jahre währt und somit die beständigste medikamentöse Therapieform darstellt, schafft sie es gegenwärtig nicht, Politik und Wissenschaft von ihrer Daseinsberechtigung zu überzeugen. Vor 100 Jahren noch war sie hoch geachtet und es gab, wie wir wissen, sogar zahlreiche homöopathische Krankenhäuser, vor allem in den Vereinigten Staaten.
Wenn man in der täglichen Arbeit so häufig die erfreulichen, wenngleich mühevoll erarbeiteten Ergebnisse sieht, die Therapeut wie Patient gleichermaßen motivieren und vom Sinn der Behandlungsform überzeugen, stellt man sich die Frage, wie es zu dieser krassen Abwertung unserer Heilweise kommen kann. In Großbritannien rotten sich Gegner der Homöopathie zusammen und verhöhnen die Methode, und in Deutschland greift nun auch die Politik das Thema auf und möchte die Homöopathie aus der Kostenerstattung, soweit sie die gesetzlichen Kassen bisher eingeführt haben, wieder verdrängen. Pauschal wird in ewig monotoner Leier propagiert, die Homöopathie sei nichts als Placebo und verdiene die breite Wertschätzung nicht, die sie in der Öffentlichkeit hat.
Zunächst drängt sich die Vermutung auf, ob nicht bestimmte Kreise systematisch gegen die Homöopathie agieren und deren Ergebnisse schlichtweg leugnen, denn man kann sich nicht vorstellen, dass wir Homöopathen so wenig achtenswerte Erfolge vorzuweisen haben. Allein die Tatsache, dass die Verordnung von Antibiotika in meiner Praxis extrem niedrig ist im Vergleich zu den schulmedizinisch orientierten Kollegen, müsste, statistisch verwertet, überzeugende Argumente liefern. Schwieriger wird es, wenn wir in der Behandlung chronischer Krankheiten überzeugen wollen. Hier leben wir meines Erachtens mehr von der Hoffnung als von durchschlagenden Ergebnissen. Zwar wissen wir alle um das Potenzial unserer Heilmethode, doch scheint mir unser Können in der Behandlung chronischer, konstitutionell bedingter Erkrankungen in unserer Generation eher dürftig zu sein.
Und hier setzt auch meine Kritik an. Ich bemängle, dass unser homöopathisches Schrifttum viel zu wenig Veröffentlichungen enthält von überzeugenden Behandlungsverläufen in chronischen Krankheiten. Die Arbeiten, die ich wahrnehme, möchte ich in drei – wenig glorreiche – Kategorien aufteilen:
Das ist – mit Verlaub – etwas überspitzt formuliert, aber durchaus realistisch. Wundern wir uns also, dass die medizinische Wissenschaft uns die Anerkennung versagt einerseits und uns andererseits neidvoll ob unserer Beliebtheit das Wasser abgraben will? Wo bleibt das klare, eindeutige, nachvollziehbare Beherrschen von solchen Leiden wie Infektanfälligkeit, Allergien, Asthma, Rheuma, chronisch entzündliche Darmerkrankungen, multiplen Sklerose, Psychosen, Krebs, ja sogar von so harmlos erscheinenden Leiden wie Heuschnupfen oder Neurodermitis.
Es ist keine Illusion: Wir haben gute Gründe, in unserer Therapieform das Potenzial zur Behandlung fast aller akuten und chronischen Gesundheitsstörungen zu sehen, aber es fehlt an der reifen, souveränen Ausübung der Methode.
Mich schaudert es jedes Mal, wenn ich sehe wie große Könner, die ihre Repertorien und Arzneimittelbilder auswendig kennen, sich plötzlich exotischen Meistern aus Argentinien, Indien oder sonst woher zu Füßen werfen. Das ist doch das klare Eingeständnis, dass sie mit der Ausübung unserer Heilkunst, wie sie in unseren Breitengraden üblich ist, nicht glücklich wurden! Dann wird hineininterpretiert auf Teufel komm raus, dann sollen exotische Spinnenmittel, seltene Mineralien, verwegene Milcharzneien oder weitere Substanzen, die über eine einfältige Signaturenlehre ausgewählt werden, es richten, Medikamente, die mitnichten ein Prüfungsbild oder ein mit klinischen Erfahrungen unterlegtes Arzneimittelbild aufweisen.
Dies wiederum ist der blanke Horror für die Schriftgelehrten unter uns, die nur und ausschließlich die wortwörtliche Aussage der Arzneimittelprüfung am gesunden Probanden zulassen als Basis für eine Arzneimittelwahl. Diese genuinen Homöopathen machen eine ehrenvolle Arbeit, aber sie sind meines Erachtens beim knapp 50-jährigen Hahnemann in Torgau zu Besuch, der gerade einige Jahre lang das Simile-Prinzip anhand einer Reihe von Akutarzneien verifiziert hat, aber noch keinen Zugang zur Behandlung der chronischen Krankheiten gefunden hat geschweige denn mit der Psora- oder Miasmenlehre seiner letzten Lebensjahre den Faden aufgegriffen hat, der zum wirklichen Verständnis unserer gesundheitlichen Prägungen führt, einen Faden, den freilich erst spätere Generationen weiterspinnen mussten.
Die Arzneimittelwahl aufgrund unendlich einfühlsamer Hinterfragung der Seele und der Beweggründe unserer Patienten mag eine Bereicherung für unserer Methode sein, denn letztlich müssen wir ja nun wirklich die Grundstruktur unseres Gegenübers verstanden haben, scheint mir aber in der täglichen Praxis eher zu Irritationen als zu handfesten therapeutischen Ergebnissen zu führen. Hier scheint mir das Pendel einseitig ausgelenkt zu sein in die Psyche im Vergleich zur Arbeit der Kollegen von vor vielleicht 50 Jahren, die ganz überwiegend somatische Elemente bedachten und damit ihrerseits wiederum dem ganzheitlichen Aspekt der Homöopathie nicht vollständig gerecht wurden.
Tragende Kreise unserer Kollegenschaft stehen weiterhin verständnislos vor den Aussagen des reifen Hahnemann, die noch mehr Ahnungen waren als fertige Einsichten. Hahnemann wie Kent haben in ihrem Spätwerk wichtige Schlüsselerkenntnisse niedergelegt, die den heutigen Homöopathen nach wie vor weitgehend fremd sind und denen sie geradezu feindselig gegenüberstehen – nicht unähnlich, wie die Schulmediziner zur Homöopathie stehen.
2008 war der Jahreskongress des DZVhÄ in Bamberg; er stand unter dem Motto “Miasmen”. Die wenigsten Vorträge wurden dem Thema gerecht, die Miasmenlehre war oft nur das Feigenblatt für die üblichen Falldarstellungen. Und in der Schlussdiskussion räumten fast alle Teilnehmer ein, dass sie mit den Miasmen so gut wie nichts anfangen könnten. J. C. Burnett, vor über 100 Jahren tätig, war viel weiter als unsere Gegenwartshomöopathie.
Ich behaupte, dass man mit den späten Einsichten Hahnemanns und dem Wissen unsere Vorfahren vor 100 Jahren weit mehr erreichen kann als heute in der homöopathischen Welt zu vernehmen ist. Wir haben einen nahezu vollständigen Fundus effektiver Arzneien. Sich den Exoten (Lehrern wie Medikamenten) zuzuwenden, der Signatur nachzulaufen, homöopathische Psychotherapie zu betreiben führt uns nicht weiter, sondern entfernt uns nur auf traurige Weise von unserer wertvollen Therapieform. Die wirklich gute, handwerklich ausgeübte Kunst, chronische Krankheitsfälle zu heilen, ist nicht oft zu finden.
Bamberg, im Juli 2010
Erschienen in der Allgemeinen Homöopathischen Zeitung 5/2010 und hier veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Haug-Verlags http://www.medizinverlage.de/SID-879A7F31-E3841F01/zeitschriften/01757881.html