Wenn ich manchmal im Straßenbild übergewichtige Personen sehe mit X-Beinen, dann denke ich, das wäre doch ein klassischer Fall für Calcium carbonicum. Tatsächlich betreue ich aber niemandem in meiner Klientel, der dieses Bild bietet. Und darüber hinaus habe ich in meiner Praxis noch keinen Patienten erlebt, dem ich mit diesem so populären Mittel signifikant helfen konnte.
Nun habe ich ja schon oft genug kundgetan, dass ich mich in der konstitutionellen Behandlung chronischer Fälle vor allem auf die Dualität von Natrium- und Kalium-Salzen stütze. Wo also bleiben Calcium carbonicum oder Magnesium carbonicum und ihre Salze? So wie ich mich in chronischen Behandlungsverläufen auch gerne ergänzender Nosoden und Akutmittel pflanzlicher oder tierische Herkunft bediene – zur Auflösung genetischer oder traumatischer Kausalitäten –, so verwende ich weitere Salze auch gerne zur Beantwortung bestimmter Verfassungen; ich nenne sie Zustandsmittel, gedacht für gewisse einseitige Störungen von zeitlich begrenzter Art, also nicht für die lebenslange Konstitutionstherapie.
In der Tat ist nicht der wechselhafte Einsatz vielfältiger „antipsorischer Arzneien“ mein Stil, so wie es Hahnemann empfohlen hat, also etwa die Abfolge von Calcium-Lycopodium-Sulfur, sondern die Suche nach dauerhaft gültigen, salzartigen Kombinationen für den jeweiligen Patienten, von der Kindheit bis ins Alter angezeigt. Wobei die Suche durchaus auch Mittelwechsel beinhaltet, aber im Sinne einer stetigen dynamischen Anpassung an neuere Erkenntnisse über den Patienten im Laufe der jahrelangen Begleitung. Das Ziel bleibt aber seine Zuordnung an eine definitiv richtige und bleibende Mittelwahl.
In diesem Sinne also verwende ich doch ab und zu zwar nicht Calcium carbonicum, wohl aber dessen Salze. Und darüber möchte ich mit drei Fallbeschreibungen berichten:
Fall 1
Es war an einem Sonntagsspaziergang im August 2022, dass ich eine Nachbarsfamilie antraf, die sich gerade um ihren Hund versammelt hatte. Hätten Sie nicht einen Rat für uns, fragte man mich, der ich schon die ganze Sippe erfolgreich in Betreuung habe. Unser Hund hat Schmerzen in der rechten Vorderpfote, und der Tierarzt denkt schon ans Einschläfern – was mich entsetzte, denn das Tier wirkte sehr vital; aber der Veterinär hatte offensichtlich keine andere Idee.
Die Pfote war um das Grundgelenk geschwollen, und auf dem Röntgenbild, das man mir zeigte, war eine deutliche Entkalkung des Radiusknochens zu sehen. Ich dachte an einen Morbus Sudeck, also eine posttraumatische Entzündung mit Verlust an Knochensubstanz. Im Repertorium scheint mir die Rubrik Osteoporose dafür am besten geeignet zu sein. Hier findet sich als Hauptmittel Calcium phosphoricum, dynamisiert aus dem mineralischen Substrat des Knochens.
Fast schon im Sinne einer Isopathie empfahl ich die Gabe von Calcium phosphoricum, zunächst in C30, einmal pro Woche, später in C200, einmal im Monat. Es dauerte gar nicht lange, bis mir von einer Wunderheilung berichtet wurde. Und wenn ich nun meine Nachbarn beobachte, wenn sie ihren Hund ausführen, so ist von einer Behinderung keine Spur mehr zu sehen. Ich denke, bei dem Tier habe ich einen Stein im Brett.
Calcium phosphoricum hat ein reichhaltiges Arzneimittelbild und steht meines Erachtens dem Tuberculinum sehr nahe. Auf meinem Weg, die Salze zu erobern, habe ich es eine Zeitlang extrem häufig verschrieben, was meine Helferin zur Kritik veranlasste: „Du kannst doch nicht jedem dieses Mittel geben!“ Es ging mir wie Vithoulkas, der in seinen Essenzen schreibt, er habe damit mehr Erfolg gehabt als mit dem reinen Phosphor. Heute ist es mir als Konstitutionsmittel aus dem Fokus geraten und ich bevorzuge in der Langzeittherapie Natrium- oder Kalium-phosphoricum.
Fall 2
Die heute 53-jährige Frau A.G. wurde mir vor drei Jahren anvertraut zur Behandlung ihrer schweren Akne inversa – oder auch Hidradenitis suppurativa genannt. In den Achselhöhlen sowie im Genitalbereich hatte sie dicke Furunkelnester und hartnäckige Fisteln, die bisher jeder Behandlung widerstanden. An weiteren Beschwerden hörte ich von einem pollenallergischen Asthma, schlimmer in feuchtkalter Luft, einer chronischen Anämie, von häufigen Tonsillitiden in der Kindheit und einer Arthrose im rechten Knie, ferner von einer inkarzerierten Nabelhernie.
Sie war in einem erbarmungswürdigen Zustand, und die linke Achsel wies ein einziges riesiges Ulcus auf mit einem unterminierten Rand. Wegen dieses klassischen Symptoms gab ich ihr Calcium sulfuricum C200, was das Spezifikum für diese Art von Eiterung und Ulzeration ist und was ihr auch ein gutes Stück Erleichterung brachte. So verringerten sich im Zuge von 4 Gaben die Schmerzen, die Exsudation ließ nach, offene Stellen heilten ein Stück weit ab und Neubildungen von Abszessen hielten sich zurück.
Es stellten sich darunter aber auch neue Symptome ein, so ein Kniegelenkserguss, der mit Medorrhinum seinen Frieden fand (= gonorrhoische Monarthritis) und eine Ischialgie, die mir Anlass gab zur Verabreichung von Kalium jodatum, dem großen Mittel für neuralgische Schmerzen. Auch tauchten nach einiger Zeit der Ruhe wieder neue Abszesse auf.
Somit schien mir der Wert von Calcium sulfuricum aufgebraucht zu sein und ich stellte die Therapie auf eine neue Grundlage. Ein Teil des Behandlungsweges ist seither Natrium sulfuricum, der andere Kalium bichromicum. Letztere Arznei ergab sich folgendermaßen: ein neu aufgetretener Abszess über der rechten Leiste, aufgegangen unter Myrrhinil intest D6, hinterließ ein Ulcus mit glattem Rand, das aussah, wie wenn man für die Weihnachtsbäckerei Formen aus dem ausgerollten Teig aussticht. Ulcus mit ausgestanzten Kanten (Boericke) ist eine Kyenote von Kalium bichromicum!
Seither bleiben wir auf dieser Linie und meiner Patientin geht es zunehmend besser. Das Achselulcus wächst langsam zu, neue Abszesse treten kaum noch auf, die Gelenke sind ruhig und das allgemeine Befinden, das vordem erheblich eingeschränkt war, ist ganz gut. Ergänzend zum dualen Weg aus Kalium bichromicum und Natrium sulfuricum kommen manchmal noch Psorinum und Thuja zum Einsatz, Letzteres etwa dann, wenn die Sekretion aus den noch vorhandenen Fisteln ins Stocken gerät. Natrium sulfuricum, das auch engen Bezug zur Verdauungsfunktion hat, sorgt für eine bessere Nahrungsverträglichkeit, d.h. keine Diarrhoe mehr mit Druck und Gas nach Milch oder anderen Speisen, und Kalium bichromicum hat erfolgreich das Kalium jodatum ersetzt, dem gegenüber es manchmal schwer zu differenzieren ist. Auch von einem pollenallergischen Asthma war heuer keine Rede mehr.
Fall 3
Die heute 70 Jahre alte Patientin begleite ich seit 4 Jahren. Mein Auftrag ist, ihre Synoviale Chondromatose in den Griff zu bekommen. Konkret bedeutet dies, dass in ihrem rechten Knie unkontrollierte Knorpelauswüchse auftreten, die zu schweren Störungen führen und komplizierte chirurgische Eingriffe zu ihrer Beseitigung erforderlich machen. Die erste große Knieoperation war ein Jahr zuvor, aber das Wachstum setzte sich fort.
Aus ihrer Vorgeschichte erfuhren wir von einer perforierten Appendizitis, einer Dermatocele, von häufigen kieferchirurgischen Eingriffen wegen Zahnwurzeleiterungen, einer noch akuten beidseitigen Trigeminus-Neuralgie sowie einer Ischialgie mit leichtem Discusprolaps, einem unbehandelten Brustknoten, einer Rhizarthrose und einem Uterusmyom, von Varizen und einem heftigen Bruxismus nachts.
Über ihre Biografie wissen wir, dass sie als Kind nach der Flucht aus der DDR 5 Jahre in einem Flüchtlingslager verbrachte, und von einigen „Leichen im Keller“ in der Familiengeschichte haben wir auch erfahren, derart etwa, dass eine Großmutter nach einer außerehelichen Affäre Mann und Kinder (!) verlassen musste.
Die Gesamtschau auf Biografie und Konstitution führte mich zu Kalium jodatum und Natrium silicicum gemäß meiner dualen Strategie in der langfristigen Behandlung. Die Neuralgien verloren sich, die Rhizarthrose kam zur Ruhe inklusive einem Ganglion am Handgelenk. Ein erneutes Wachstum der Enchondrome konnte ich aber nicht wirklich aufhalten, eine weiter Operation wurde nötig.
Da kam mir Calcium fluoricum zu Hilfe, auch in der Rubrik Enchondroma (Murphy) aufgeführt, neben Silicea. Jede der bisherigen 5 Gaben in C200 vermochte die Schmerzsymptomatik deutlich zu verbessern, und letzte Kontrollen durch die Chirurgen zeigten eine stark verringerte, nur mehr minimale Rezidiv-Progression. Ich erwarte mir, dass diese Arznei, im Hahnemannschen Sinne als Ergänzungsmittel für eine „einseitige Krankheit“ eingesetzt – ich spreche dabei gerne von einem „Zustandsmittel“ –, die Krankheit mit fortgesetzten Gaben und in zunehmend höheren Potenzen auf Dauer unter Kontrolle bringen lässt.
Resümee
Ich frage mich fortwährend, ob diese Art, die Homöopathie auszuüben, ein mir eigener Spleen ist oder Allgemeingültigkeit erlangen kann. Ich jongliere mit diesen Salzen relativ unbekümmert, wähle sie wie in einem Baukasten-System und freue mich jeden Tag über die wunderbaren, wenngleich nicht leicht zu erringenden Ergebnisse, die mir die herkömmliche Polychrest-Homöopathie nie ermöglicht hätte. Klarheit darüber wird erst die Zeit bringen, denn entscheidend für den Wert einer Therapie ist die weitere Entwicklung, die zeigen wird, ob Nachhaltigkeit erreicht wird oder ob der Erfolg nur von begrenzter Dauer ist. Auch das Auftreten neuer oder tieferer Pathologien sollte ausbleiben, wenn die Behandlung eine fundmentale Stabilisierung der Konstitution erfüllt haben will.
Darüber zu urteilen, bedarf es vielleicht mehrerer Generationen von Homöopathen.
Bamberg, im Juni 2023