Die Homöopathie fußt auf einer Handvoll unverrückbarer Grundlagen: das ist das Simile-Prinzip; das sind die Arzneimittelbilder, die aus der Prüfung am Gesunden, aus der bekannten Toxizität einer Substanz und aus den klinischen Erfahrungen entstanden sind; und das sind die Vorgänge des Dynamisierens oder Potenzierens. In ihrer Ausübung aber erlebt sie unterschiedlichste Strömungen und Schulen, und das seit Anbeginn. Zwar kann es nur einen Maßstab für die richtige Anwendung der Methode geben, nämlich den Erfolg am Patienten, aber dieser ist schwer messbar und unterliegt verschiedensten Einflüssen. Bei akuten Erkrankungen können die Ergebnisse eindeutig und unzweifelhaft sein, aber auch hier müssen wir Spontanheilungen einkalkulieren, die uns den Erfolg vortäuschen. Schwieriger wird es aber bei chronischen Erkrankungen, da deren Heilung ein prozesshaftes Geschehen ist, das viele Schritte erforderlich macht, deren Wert im Einzelnen oft nicht zu beurteilen ist. Nicht selten hat man ein passendes Mittel gefunden und freut sich über den Erfolg, um später feststellen zu müssen, dass die gegebene Arznei nur annäherungsweise richtig war und auf Dauer nicht weiterführte.
Wer hat also Recht? Derjenige, der auf die bekannten Polychreste setzt? Derjenige, der seine Entscheidung aus subtilsten Persönlichkeits- und Charaktermerkmalen sucht? Derjenige, der das Heil in den moderneren Strömungen sucht wie Schlangen-, Spinnen- oder Vogelfederarzneien oder den Lanthaniden, die uns Jan Scholten aus den Niederlanden schmackhaft macht? Erst die mehrjährige Beobachtung nachhaltiger Besserungen tieferer Pathologien wird diese Frage beantworten lassen. Vorläufig sind die verschiedenen Denkrichtungen aber erst einmal verwirrend für den, der die Homöopathie erlernt, ebenso wie etwa für den Leser dieser Zeitschrift.
In Heft 3/2012 der Homöopathie aktuell hat Dr. Ralf Werner die Auffassung vertreten, dass das grundlegende Konstitutionsmittel aller Menschen letztlich Natrium muriaticum sei. Das klingt zwar pauschal und scheint in Widerspruch zu stehen zum Postulat einer grundlegend individuellen Behandlung eines jeden Patienten. Dennoch sehe ich ein großes Stück Berechtigung dieser Ansicht von der Warte meines eigenen Arbeitsstils aus.
Ich treffe meine Entscheidung für ein Arzneimittel gerne nicht nur aufgrund der vorliegenden Symptomendetails, sondern auch unter Berücksichtigung der miasmatischen Belastung. Hierbei fließen in die Entscheidung sowohl Art und Ort der Erkrankung ein als auch die erbgenetische Belastung des Patienten. Ich konnte im Verlauf langjähriger Beschäftigung mit der Homöopathie beobachten, dass das Miasma der Sykose einen hohen Verbreitungsgrad hat. Die Sykose basiert nach unseren Vorstellungen auf Urogenitalinfekten des Patienten selbst oder seiner Vorfahren. Konkret sind dies vor allem die Gonorrhoe, aber auch Clamydieninfekte, Trichomonadenbefall oder wiederkehrende Pilzinfektionen. Nach Auffassung von J.H. Allen (ein namhafter amerikanischer Homöopath, 1854-1925) seien zu seiner Zeit 80% aller jungen männlichen Amerikaner mit Gonorrhoe infiziert gewesen. Auch wenn wir in einem anderen Erdteil leben und das Miasma der Sykose bei uns überwiegend ererbt wurde, so schätze ich dessen Ausbreitungsgrad bei uns im gleichen prozentualen Verhältnis.
Nun ist für mich die Hauptarznei zur Behandlung sykotischer Folgeerkrankungen nicht nur die Nosode Medorrhinum und der Extrakt des Lebensbaumes Thuja, sondern vor allem Natrium muriaticum (spezifischer noch Natrium carbonicum) mit seinen Salzen. In der Einschätzung des Vorkommens von Natrium-Charakteren stehe ich also durchaus in großer Nähe zu Dr. Werner. Allerdings ist meine Spezifität, dass ich die Polychreste wie eben Natrium muriaticum, aber auch Phosphor, Arsen, Sulfur, Silicea etc., seit vielen Jahren nicht mehr in reiner Form einsetze, sondern, mit Ausnahme von Akuterkrankungen, nur mehr in salzartiger Kombination - auch dies eine besondere Linie in der Homöopathie, die nicht nur in der Gegenwart von Ärzten wie Jan Scholten, Rajan Sankaran oder Wolfgang Springer propagiert wird, sondern vor allem zur Zeit von James Tyler Kent (1849-1916) als eine Weiterentwicklung der klassischen Homöopathie eine große Rolle gespielt hat. Natrium muriaticum selbst habe ich seit mindestens zehn Jahren nicht mehr verordnet, wohl aber dessen Verbindungen wie Natrium phosphoricum, Natrium silicicum, Natrium arsenicosum oder auch Aurum muriaticum natronatum. Wenn ich meine bisherigen Beiträge überblicke, die ich in der Homöopathie aktuell veröffentlichen durfte, so waren dies in der Mehrzahl Fälle von Natrium-Salzen.
Für mich liegt die Begründung der kombinierten Arzneien in der Vermutung, dass unser Kranksein nicht nur von einem einzigen Miasma bestimmt ist, sondern vom Zusammenwirken mehrerer Miasmen. So scheint mir Natrium phosphoricum eine Verknüpfung von Sykose und Tuberkulinie zu erfassen und Aurum muriaticum natronatum, über das ich zuletzt in der Homöopathie aktuell 3/12 berichten konnte, einer Verknüpfung von Sykose und Syphilinie. Im letzten Beitrag deutete ich bereits an, dass auch Mercurius chloratus natronatus (gleichfalls eine Verknüpfung von Syphilinie und Sykose) sich als hervorragende (wenngleich nahezu völlig unbekannte) Arzneikombination erwiesen hat. Darüber möchte ich heute eine Fallschilderung beitragen.
Daniela G., jetzt 48 Jahre alt, hat viel Geduld aufgebracht und selten darüber geklagt, dass meine Arbeit nur Geld kostet, aber kaum Erfolg bringt. Seit 1999 steht sie in meiner Behandlung. Sie kam zunächst wegen einem Exanthem der Hände, trocken, brennend und hellrot. Sie klagte ferner über eine starke psychische und geistige Erschöpfung, fühlte sich elend und müde und konnte kaum mehr irgendetwas lernen, ihre Gedächtnisleistung war so schwach. Einige Jahre lang stand sie in großen Sorgen wegen ihrer Tochter, die an einer chronischen Nierenerkrankung litt. Ängste, Depressionen und Niedergeschlagenheit hatten sie im Griff. Ferner beklagte sie einen Heuschnupfen und Verdauungsprobleme mit kräftigen Blähungen und einem ausgeprägten Völlegefühl. Jahrelang waren ihr übermäßig viele Haare ausgefallen, und was nach wuchs, ist grau. Nicht nur wegen ihres Kindes war sie in Sorge, sondern auch wegen ihrer Eltern: Die Mutter litt an chronischem Rheuma mit Gelenksdestruktion, ferner an einem Hirntumor, einem Meningeom. Der Vater hatte ein Karzinom mit Befall mehrerer Organe, hatte zwei Herzinfarkte hinter sich, daneben bestand bei ihm ein Aneurysma der Bauchaorta. Sie selbst sei als Kind häufig krank gewesen, hätte unter zahlreichen Tonsillitiden gelitten, eitrig und antibiotisch therapiert. Auch ihr Kehlkopf sei öfter entzündet, mit extremem Brennen und Luftnot, und sie bezeichnete sich als eher verfroren, trüge gern einen Schal.
Ein weiteres großes Thema war ihre Neigung zu entzündetem Zahnfleisch, mit Bluten und Eiterungen und rasch fortschreitendem Zahnfleischschwund. Weitere Angaben aus ihrer Anamnese: Als Kind wäre sie ungern alleine gewesen, Prüfungen, aber auch Auftritte in der Öffentlichkeit, waren immer ein großes Problem für sie. Herpes labialis trete oft auf, gerne ausgelöst durch Erkältungen. Am Nabel trug sie eine große braune Warze. Ihre Erscheinung ist sehr liebenswürdig, zuvorkommend und offenherzig, der Umgang mit ihr immer freundlich und herzlich.
Diese ihre Wesensart, die Neigung zu Blutungen des Zahnfleisches sowie zu unangenehmen Kehlkopfentzündungen veranlassten mich, zunächst mit Phosphor bzw. Calcium phosphoricum die Behandlung zu beginnen, obwohl bei der Auswertung ihrer Symptome auch Natrium muriaticum eine große Rolle spielte. Erstaunlicherweise ging das Ekzem rasch weg, besserte sich auch ihre Konzentrationsfähigkeit, aber an den anderen Erscheinungen änderte sich nicht viel. Zur damaligen Zeit entdeckte ich schon die Natriumkombinationen und setzte die Arbeit fort mit Natrium phosphoricum, ergänzt durch Thuja und Medorrhinum.
Fortlaufend schlimmer wurde aber die Situation der Zähne. Zahnfleischbluten mit Eiterung, massiver Zahnfleischschwund und schließlich das Lockerwerden eigentlich gesunder Zähne verschlimmerten sich und veranlassten mich, nun Mercurius solubilis zu geben.
Bald darauf fand ich aber wieder Gründe, zu Natrium carbonicum zurückzukehren. So ging das eine Weile hin und her, auch Aurum muriaticum natronatum wurde zeitweise erfolgreich eingesetzt im Wechsel mit Syphilinum. Später kamen wieder andere Quecksilbersalze wie Mercurius sulfuricus und Mercurius phosphoricus zum Einsatz - aber es blieb ein Elend. Als Harnwegsínfekte auftauchten und schließlich noch eine sexuelle Lustlosigkeit, zeigte sich wieder die Notwendigkeit eines Natriumsalzes.
So ging das bis zum Sommer 2011, bis mir endlich Mercurius chloratus natronatus in die Hände fiel, das sich fand im Angebot von Apotheker Robert Müntz aus Eisenstadt/Kärnten (www.remedia.at). Meine Patientin hatte fast schon resigniert, ich jedoch hatte ihren Leidenszustand nicht vergessen und schickte ihr meine Neuentdeckung sofort zu, da ich darin nun endlich die Lösung sah, auf die ich in ihrem Fall zwölf Jahre gewartet hatte. Daniela G. erhält diese Arznei nun seit über eineinviertel Jahren in Abständen von mindestens 5 Wochen. Seither hat sich die Blase gebessert, die bereits Inkontinenzerscheinungen aufwies, haben sich die Eiterungen und Zahnfleischentzündungen zwar langsam, aber schließlich vollständig beruhigen lassen, sitzen auch die Zähne wieder fester. Insgesamt hat sie über die Jahre ihrer schlimmen Zahnfleischerkrankung zwei oder drei Zähne verloren, ließ sich aber gottlob nicht vom Zahnarzt überreden, die übrigen Wackelzähne zu entfernen. Das Zahnfleisch weist wieder eine schöne rosa Farbe auf, ist jedoch noch ein gutes Stück zurückgezogen, aber ich mag hoffen, dass sich auch hier eine gewisse Regeneration einstellt. Es bedarf sicher noch einiger Jahre kontinuierlicher Anwendung dieses Medikaments, wenngleich vielleicht zunehmend größere Abstände der Mittelgaben möglich werden.
Daniela G. ist sicherlich massiv hereditär syphilitisch belastet, worauf der Hirntumor und das schwere gelenksdestruktive Rheuma ihrer Mutter hinweisen, aber auch die Krebserkrankung und das Aneurysma beim Vater. Die schwere Zahnfleischerkrankung ist am ehesten Mercurius zuzuschreiben. Die Harnwegsproblematik verweist auf ein sykotisches Miasma, wobei der Lippenherpes und der vorübergehende Libidoverlust wiederum für Natrium muriaticum oder eines seiner Salze sprechen. Konsequenterweise ergibt sich aus der Kombination aller ihrer Charakteristika eine Rechtfertigung für die Arznei Mercurius chloratus natronatus - eine Arznei, für deren Entdeckung ich sehr dankbar bin, über deren Ursprung mir aber keine Information vorliegt.
Es gäbe noch viel zu berichten über andere Fälle, wo ich ebenfalls lange Zeit vergeblich die Kunst der Homöopathie bemühte, um schließlich mit dieser Arznei noch manchem Patienten mit Migräne und anderen schweren Leidenszuständen eine wirksame Hilfe geben zu können.
Bamberg, im September 2012
Veröffentlicht in der Homöopathie aktuell, Ausgabe 1/2013