Die so genannten Funktionsmittel nach Dr. Schüßler haben in den letzten Jahren sehr viel Aufmerksamkeit erworben – vor allem in Laienkreisen. Es handelt sich dabei, mit Ausnahme von Silicea, um komplette Salze, bestehend aus Säure und Base bzw. aus Kation und Anion. In der klassischen Homöopathie fristeten sie allerdings seit ihrer Einführung eher ein Schattendasein, da sie Dr. Schüßler Ende des 19. Jahrhunderts nicht über die klassische Methode der Arzneimittel-Prüfung charakterisiert hat, vielmehr ihr Indikationen eher aus theoretischen Erwägungen erstellt hat. Dennoch hat sie kein geringerer als JT Kent sehr zu schätzen gewusst und in seiner Arzneimittel-Lehre ausführlich beschrieben, und zwar nicht nur die von Schüßler eingeführten, sondern auch weitere Salze. Und in seinem Nachlass fanden sich zusätzliche Salze dieser Art, die er geprüft und beschrieben hat.
In den letzten Jahren hat uns Jan Scholten seine spezifischen Wege aufgezeigt, mit derlei Mineralien umzugehen, in dem er nämlich ihren Einzelkomponenten spezifische Essenzen zugeschrieben hat. Ähnlich verfuhr auch Sankaran, der diesen Salzen vor allem personotrope Charakteristika zugeteilt hat.
Dass mineralische Arzneien das eigentliche Rückgrat in der Konstitutionsbehandlung darstellen, das hat uns schon Samuel Hahnemann vorgeführt in seinem Weg hin zur Behandlung chronischer Krankheiten. In meiner eigenen beruflichen Entwicklung habe ich in tausenden von Fällen die Beobachtung gemacht, dass tatsächlich aber die kompletten Salze im Sinne der Schüßler`schen Intention wesentlich nachhaltiger und fundamentaler wirken als die gängigen Polychreste wie Arsenicum album, Phosphorus, Sulfur oder viele andere mehr.
Nun ist es aber auf dem Weg der klassischen Repertorisation, wie sie auch der Computer gestützten Auswertung zugrunde liegt, schwierig, eine Entscheidung für diese Salze zu fällen, da sie nach Zahl und Wertigkeit eher unterrepräsentiert sind und in der Regel nicht in vorderster Front einer summenmäßigen Auswertung stehen. Diese Spitze nehmen eben in aller Regel die großen Monosubstanzen ein, während die häufig nützlicheren Salze zahlenmäßig weit abgeschlagen liegen. Bei meiner Form der handschriftlichen Auswertung entdecke ich sie aber meist doch zwischen den großen Säulen der Polychreste und mein anfänglich wichtigster Weg der Aufdeckung solcher Salze war die Hinwendung zu zusammen gesetzten Arzneien, auch Doppelmittel genannt. Ein klassischer Fall wäre die Häufung von Natrium muriaticum ebenso wie Sulfur auf dem Repertorisationsbogen, während das indizierte und hilfreiche Natrium sulfuricum möglicherweise nur in ein bis zwei Rubriken und auch noch in relativ niedriger Wertigkeit zutage träte. Ähnliches gilt für alle weiteren Salze, so auch für Calcium phosphoricum, dessen Indikation man sich ableiten würde aus der Häufung von Calcium carbonicum, Phosphor und Acidum phosphoricum und auch Tuberculinum, dem es in seinen Charakteristika sehr nahe steht.
Die hier von mir postulierte Nähe von Calcium phosphoricum zu Tuberculinum, gleichsinnig auch der bekannten Verwandtschaft von dem schon genannten Natrium sulfuricum zum Miasma der Sykose, deutet schon an, welches mein nächster entscheidender Schritt wurde auf dem Weg zur Identifizierung dieser kleineren, mineralischen Arzneien, nämlich sie über ihre miasmatische Zugehörigkeit zu erschließen.
Wie wir alle wissen, ist die Miasmenlehre seit der Einführung von Hahnemanns Psoratheorie bis in die heutigen Tage immer umstritten gewesen. Es wird darüber viel Theorie gewälzt, aber konkrete Handlungsanweisungen außer der gelegentlichen Anwendung der zugehörigen Nosode wurden uns bislang vorenthalten. Für mich hat sich aber ein großes Behandlungspotential entfaltet aus der Erkenntnis heraus, dass ich diese Doppelmittel gut über miasmatische Charakteristika zu erarbeiten lernte.
So beobachtete ich z. B. bei einem hoch gewachsenen, schlacksigen Jungen, nachdem ich dessen chronische Otitiden leidlich mit Calcium phosphoricum unter Kontrolle gebracht hatte, das Auftreten einer Handwarze. Hier manifestierte sich eine bis dahin nicht geahnte sykotische Belastung des Knaben und führte mich zur Entscheidung für ein Natrium-Salz, nämlich Natrium phosphoricum, das meines Erachtens die Fortsetzung des Phosphor-Bildes in der sykotischen Ebene darstellt. Acht Tage nach Gabe der Arznei verschwand die Warze wieder.
Yves Laborde beschreibt fünf hereditäre Miasmen, deren Pathologie sich gemäß Peter Gienow in folgender Reihe vertieft, nämlich von der Psora über die Tuberkulinie, die Sykose, die Karzinogenie bis hin zur Syphilinie. Mir ist es zur alltäglichen Routine geworden, diesen fünf Miasmen bestimmte Mineralien zuzuordnen.
Die Psora als das Miasma der oberflächlichsten Pathologie, nämlich der Hauterkrankungen und der funktionellen Störungen, hat sicher in Sulfur ihre Hauptarznei.
Die Tuberkulinie, am besten charakterisiert durch die Begriffe Verausgabung und Erschöpfung mit Schwerpunkt der Pathologie auf den Atemwegserkrankungen, lässt sich am besten mit den Arzneien Phosphorus, Acidum phosphoricum, Calcium carbonicum, Calcium phosphoricum und Silicea verknüpfen.
Der Sykose fällt das Schlagwort der Übertreibung zu, ihr Hauptangriffspunkt ist sicher der Urogenital-Bereich, aber auch Stoffwechselstörungen wie Gicht und Gallensteinbildung, Ausbildung gutartiger Tumore, gewisse Gelenkserkrankungen, Schleimbildung und Überreaktionen im Sinne der Pollinose. Ihre Hauptmittel sind meiner Beobachtung nach Thuja, aber auch Lycopodium und Sepia, vor allem aber alle Natrium-Salze.
Das Miasma der Karzinogenie, dessen Hintergrund nicht nur eine Häufung von Krebserkrankungen in der Familie sondern auch unterdrückende Lebensumstände darstellen, wird meines Erachtens stark von den Kali-Salzen repräsentiert. W. Boericke hat schon Kalium phosphoricum in die Nähe der Krebserkrankungen gerückt, andere Autoren haben diese Zuordnung auch dem Kalium arsenicosum gegeben. Auch eine Arznei wie Kalium sulfuricum lässt sich unter diesem Aspekt gut erarbeiten, wenn man einen Patienten mit einerseits deutlichen Pulsatilla- oder Sulfur- Merkmalen sieht, andererseits an ihm Gründe für das Vorliegen des karzinogenen Miasmas wahrnimmt.
Der Syphilinie, die gerne mit dem Ausdruck der Zerstörung charakterisiert wird, sind alle Metalle zuzuordnen, in erster Linie aber meines Erachtens Mercurius solubilis, Arsenicum album und Aurum. Auch hier sind mir allerdings die salzartigen Verbindungen wesentlich nützlicher geworden als die einzelnen Elemente. Den Quecksilber-Verbindungen möchte ich vor allem neben der Störung von Nervenfunktionen das Terrain der Schleimhäute, vor allem der Körperöffnungen zuschreiben. Die Goldsalze sehe ich vor allem nützlich bei schweren Erkrankungen der Psyche, des zentralen Nervensystems, des Herzens, der Gelenke und der Knochen, aber auch der Gonaden. Die zwischen diesen beiden Ebenen liegenden Organsysteme wie Lunge und Magen-Darm-Trakt fallen meines Erachtens gut unter die Zuständigkeit von Arsen-Salzen. Nebenbei betrachte ich auch die Halogene als antisyphilitische Arzneien.
Wie man sehen kann, so geht in meine Entscheidung für ein Mineral der beschriebenen Art also nicht nur das individuelle Symptom ein, sondern auch die Pathologie, die sich in Ort und Art der Erkrankung manifestiert und das vorherrschende Miasma repräsentiert. Es entsteht eine Art Koordinaten-System, das die Tiefe der Erkrankung mit den Persönlichkeitsmerkmalen verknüpft. Berücksichtigung finden bei diesem Entscheidungsprozess sowohl die primäre Miasmatik, d.h. die familiäre Belastung, als auch die sekundäre Miasmatik, also die Krankheitsausprägung am Patienten selbst.
Die Miasmen, die für die tiefsten Destruktionen stehen, sind sicher die Karzinogenie und die Syphilinie. Es ist nicht immer leicht, zwischen beiden zu unterscheiden, da oft nur Nuancen den Ausschlag für die Richtungswahl geben.
Man kann die von mir beschriebene Vorgehensweise unhomöopathisch oder hypothetisch nennen, sie erlaubt es aber, zu Arzneien vorzustoßen wie Natrium arsenicosum, Kalium silicicum, Mercurius sulfuricus oder Aurum phosphoricum, die sich allesamt als äußerst wirkungsvoll erwiesen haben. Somit muss also Ähnlichkeit gegeben und das Simile-Prinzip erfüllt sein. Meine Theorie ist, dass für das Auftreten einer bedeutsamen Erkrankung mehrere Miasmen Voraussetzung sind und dass diese Doppelmittel deshalb gut wirken, weil sie zumindest zweierlei Miasmen repräsentieren. So ist sicher Natrium phosphoricum ein Brückenmittel zwischen Sykose und Tuberkulinie und deckt Aurium muriaticum natronatum Syphilinie und Sykose ab ebenso wie Natrium arsenicosum.
Die besagten Arzneien eignen sich nach meiner Erfahrung sehr gut für die konstitutionelle Stabilisierung eines Patienten, also für die Bereinigung seiner hereditär-miasmatischen Basis. Nicht übersehen werden aber darf, dass im Verlauf einer therapeutischen Kur Ergänzungen vorgenommen werden müssen. Hierfür dienen natürlich die zugehörigen Nosoden, aber auch kleinere Arzneien aus pflanzlichem, tierischem, mineralischem oder metallischem Fundus, die bestimmte Einseitigkeiten der Krankheitsausprägung abdecken. Beispielhaft zu nennen wären Conium bei Tumorerkrankungen oder Staphisagria und verwandte Arzneien bei psychopathologischen Ausprägungen oder bestimmten für die Krankheitsentwicklung bedeutsamen Lebenserfahrungen.
In wenigen Sätzen seien hier einige Beispiele für die erwähnte Arbeitsweise skizziert:
Ein 55-jähriger Patient entwickelt eine schmerzhafte Fingergelenks-Arthropathie. In wesentlichen Elementen seiner Persönlichkeit entspricht er dem Arzneimittelbild Phosphor bzw. dem tuberkulinischen Miasma. Die Betroffenheit eines Gelenkes vor dem Hintergrund einer Rachitis in der Kindheit und später in der Jugend nachfolgender schwerer Wirbelsäulenbeschwerden sprechen für eine Beteiligung der Syphilinie bzw. verweisen auf ein Goldsalz. Aurum phosphoricum vermag die Erkrankung nachhaltig zu bereinigen und erweist sich auch weiterhin als erfolgreiche konstitutionelle Arznei.
Ein knapp 50-jähriger Patient mit Multipler Sklerose weist juckende Ekzeme auf, die am besten dem Arzneimittelbild von Sulfur entsprechen. Da die MS als syphilitische Erkrankung zu betrachten ist, wird die Behandlung mit einem Gold-Salz begonnen, nämlich Aurum sulfuratum. Im Verlauf der Behandlung kommt es aber zu Schwindelerscheinungen, die eine Korrektur der Vorgehensweise erzwingen. Der Hinweis auf eine deutliche Schweißneigung veranlasst zum Wechsel zu Mercurius sulfuricus, welches den Patienten in wiederholten Gaben nachhaltig stabilisiert, nicht nur die zuletzt aufgetretenen neurologischen Ausfälle bereinigt, sondern auch das Schwitzen deutlich reduziert und das Ekzem beseitigt.
Ein kleines Mädchen von heute vier Jahren verlor seine Mutter an einer Leukämie-Erkrankung. Schon vor dem Tod der Mutter fiel es durch Stuhlverhalt auf, der sich später in extreme Zustände steigert. Natrium muriaticum scheint hierfür angezeigt. Geleitet von der syphilitischen Miasmatik, die sich meines Erachtens in der Leukämie-Erkrankung der Mutter manifestiert, stoße ich schließlich auf Aurum muriaticum natronatum, welches schlagartig das Problem bereinigt und sich auch später als wiederholt erfolgreich bei dem Mädchen erweist.
Ein Mädchen von zehn Jahren hatte in der Kleinkinderzeit eine erhebliche Neurodermitis mit stark juckenden Ekzemen und entwickelte später eine mit leichtem Asthma einhergehende allergische Atemwegserkrankung. Wegen der juckenden Hauterkrankung, die der Psora entspricht, wird eine Schwefelverbindung gewählt, das Asthma verweist auf Arsen. Spezifische Arsen-Merkmale fielen allerdings in der Charakteristik des Kindes nicht auf, aber das auf Umwegen erreichte und zuletzt gewählte Arsenum sulfuratum flavum verhilft dem jungen Mädchen nach und nach zu völliger Stabilisierung.
Ein 13-jähriges Mädchen hatte eine Handtellerwarze, welche auf Natrium carbonicum zunächst verschwand, später aber wiederkam. Die weitere Gabe der Arznei blieb wirkungslos, aus der einen Warze entwickelten sich schließlich 20 Warzen, die die rechte Hand des Mädchens verunstalteten. Erst die dreißigste Arznei führte zu einem raschen und vollständigen Verschwinden der Warzen. Es war dies Natrium arsenicosum. Eine sykotische Belastung war bei dem Mädchen seit früher Kindheit bekannt in Form einer Pyelonephritis, die in den ersten Säuglingsmonaten auftrat. Später entwickelte das Mädchen ein leichtes pollenallergisches Asthma. Dies und eine gewisse Ängstlichkeit gaben Hinweise auf eine Arsen-Verbindung. Ausschlaggebend für die Wahl eines Arsen-Salzes war allerdings die auffallende Rechtsseitigkeit des Warzenbefalles.
Eine 27-jährige Frau kam in Behandlung wegen rezidivierender schwerer Lumboischialgien. Ihre biographische Anamnese zeigte auf, dass sie in ihrer Kindheit wegen Disharmonien der Eltern zeitig die wichtigste Vertrauensperson für ihren Vater wurde und somit in eine für einen jungen Menschen unangemessene frühe Verantwortlichkeit gedrängt wurde. Dies ist oft der Hintergrund für die Entwicklung der Karzinogenie. Ihre Anamnese erbrachte zahlreiche Hinweise auf Phosphor. Unter Berücksichtigung des zu vermutenden karzinogenen Miasmas wurde nach ersten Fehlschlägen Kalium phosphoricum gegeben, welches im Wechsel mit Carcinosin ihre Rückenbeschwerden deutlich und nachhaltig bereinigten. Sie weist eine gewisse, für Kali-Salze typische, aber nicht obligate, Körperfülle auf.
Ein heute 45-jähriger Patient wurde vor einigen Jahren wegen rezidivierender Mittelohrprobleme leidlich erfolgreich mit Phosphor, Calcium phosphoricum und Silicea stabilisiert. Über Nacht entwickelte er aber ein Hodenkarzinom, welches operativ entfernt und mit lokaler Bestrahlung nachbehandelt wurde. In Gestalt dieser, plötzlich aufgebrochenen, bedrohlichen Erkrankung wurde das syphilitische Miasma manifest, das sich aber schon in der Krankengeschichte der Vorfahren zeigte. Die Behandlung führte letztlich zur Aurum phosphoricum, was den Patienten in jeglicher Hinsicht stabilisierte und somit nicht nur als sein Similimum betrachtet werden darf, sondern auch als das Arzneimittel, das wohl am meisten vor einem Rückfall in die maligne Erkrankung schützen dürfte. Allerdings trat kurze Zeit nach der schulmedizinischen Behandlung ein hochgradig unangenehmer Schwindel auf, der rasch durch Conium zu beseitigen war. Somit dürfte dies das zweite für die Stabilisierung des Patienten unabdingbare Medikament sein, welches zur Vervollständigung der Genesung notwendig ist. Der Patient erfreut sich heute bester Gesundheit.
Auf die Notwendigkeit, nicht nur das individuelle Symptom, sondern auch die Pathologie der Erkrankung bei der Behandlung eines Patienten zu berücksichtigen, verwies uns schon JC Burnett mit seinem Satz: ”Wenn die Homöopathie einmal ihre Säuglingswindeln ablegt, dann werden die subjektiven Symptome für die höhere Homöopathie das sein, was das Buchstabieren für das Lesen ist”.
Die von mir hier beschriebene und mit Beispielen für eine erfolgreiche Anwendung belegte Arbeitsweise erlaubt es, unser Wissen über die hereditären Miasmen in eine wirkungsvolle Therapie umzusetzen. Sie stützt sich auf Arzneien, die unseren Vorfahren vor 100 Jahren vertrauter waren als uns heutigen Homöopathen, die sich aber auf der Basis miasmatischer Überlegungen, wie ich sie hier angestellt habe, leichter erschließen und mit mehr Treffsicherheit einsetzen lassen.
Bamberg, im Februar 2008
Zusammenfassung eines Vortrags, gehalten auf der Jahrestagung des Zentralvereins homöopathischer Ärzte 2008 in Bamberg