Wenn ich die Gegenwarts-Literatur der Homöopathie betrachte und die Vorträge renommierter Kollegen verfolge, so stelle immer wieder fest, dass die Behandlung chronischer Fälle mit den gängigen Instrumenten noch unbefriedigend ist. Den Trend zu neueren Schulen werte ich als Ausdruck einer allgemeinen Unzufriedenheit mit den Ergebnissen unserer traditionellen Arbeit. Die hin und wieder vermeldeten Wunderheilungen langjähriger Leiden mit bislang unbekannten exotischen Arzneien betrachte ich mit Skepsis, vor allem ob ihrer Nachhaltigkeit.
Dass ich meinen eigenen Weg gegangen bin, im Rückgriff unter anderem auf Schüßler, Kent, Burnett, habe ich schon in vielen Schriftstücken und Vorträgen kundgetan. Vor allem habe ich gelernt, fundamentalen Leiden eine lange, sogar sehr lange Behandlungszeit einzuräumen, einige Jahre, und in Fällen schwer traumatisierter Biografien sogar als lebenslange Begleitung.
Es dauert bei vielen chronischen Krankheiten, etwa bei Migräne, Rheuma, Psychosen u.v.a.m. zunächst eine Weile, bis man im Dickicht einer konfusen Symptomenvielfalt seinen Behandlungsweg gefunden hat, der sich, nicht selten durch wiederholte Korrekturen nachgebessert, als gangbar und tragfähig erweist. Positive Rückmeldungen, eine beginnende Linderung erlebe ich als Bestätigung der getroffenen Mittelwahl, was mir und meinen Patienten die Perspektive auf ein schrittweises Abtragen der Pathologie und eine Heilung auf lange Sicht eröffnet.
Das einzig sinnvolle Vorgehen ist die Kontinuität der Betreuung mit stetigem Hinterfragen der Strategie. So schält sich aus einem anfangs diffusen Beschwerdebild nach und nach die optimale Lösungsstrategie heraus, und tatsächlich ist es so, dass mit fortgeschrittener Behandlung die vom Patienten vorgetragene Symptomatik immer klarer wird und die Folgeentscheidungen in der Mittelwahl immer leichter fallen.
Diese meine von Mühen gezeichnete Behandlung chronischer Fälle kann natürlich desillusionierend wirken, vor allem im Kontrast zu den mit glänzenden Augen vorgetragenen Beteuerungen homöopathischer Gurus. Es bedarf einiger Erfahrung, um den Patienten führen zu können und sich selbst nicht entmutigen zu lassen, wenn der Verlauf und das Vorankommen manchmal zäh sind. Die Ernte aber ist großartig und es bleibt bei mir nur eine Handvoll Patienten übrig, bei denen ich nicht richtig den Fuß in die Türe bringe und auch nach Jahren trotz aller Bemühungen keinen wirklichen Erfolg erkennen kann.
Ich bin mir aber sicher, dass ich manche entscheidende Information in diesen Fällen nicht gewinnen konnte oder vielleicht übersehen habe, oder, auch das erlebe ich immer wieder, mein Wissen halt noch Löcher hat – der Homöopath stirbt in seiner Lehrzeit, sagt man nicht ohne Grund. Und ich wäre jedem dankbar, der mir einen einfacheren und schnelleren Weg zu einer nachhaltigen Heilung zeigen könnte.
Nicht nur die Beobachtungen der Patienten werden mit fortschreitender Behandlung klarer, sondern auch die Wirkung der einzelnen Gaben lässt sich deutlicher vernehmen. So erfahre ich in schöner Regelmäßigkeit und in zunehmender Präzision, wann eine Gaben- Wiederholung angezeigt ist. Täglich bestätigt sich mir die Richtigkeit der Kentschen Skala, die aber leider unter den Kollegen zu wenig bekannt ist. Sie beschreibt ziemlich genau die Wirkdauer der einzelnen Potenzierungsstufen:
Viele Kollegen halten eine M (C1.000K = Korsakoff) für einen hohen Dynamisierungsgrad, dabei ist sie nicht mehr wert als eine C30 Hahnemann. Man muss aufpassen bei Bestellungen aus dem Ausland; so verkauft Schmidt-Nagel im schweizerischen Genf eine C200 zunächst als Korsakoff-Potenz, wenn man nicht ausdrücklich eine C200H (= Hahnemann) bestellt. Einer C200H ebenbürtig ist eine XMK (C10.000K). Ich beginne meine Therapie meist mit einer C200H, die nach einigen, vorausgesetzt erfolgreichen Gaben mit einer LMK (C50.000K) fortgesetzt wird. Die nächsten Stufen sind für mich die C100.000K (CMK) und schließlich nach langer Anwendung die C1000H als die höchste mir zur Verfügung stehende Potenz. Kent hatte mit seinem Weg in die hohen und höchsten Potenzen und damit in die zunehmende Entfaltung geistartiger Wirkkräfte durchaus recht.
So habe ich mal innerhalb weniger Tage bei einigen Fällen registriert, wie sich diese postulierte Wirkdauer durch das Wiederauftreten von für den Patienten charakteristischen Symptomen bestätigte:
Die kleine Lore, geboren im Sommer 2019, hatte einen schweren Winter 2022/2023; sie rutschte von einem Infekt in den anderen: schwere nächtliche Hustenanfälle, Mundfäule, Tonsillitiden und Ohrenschmerzen gaben sich die Klinke in die Hand. Von Grund auf wies sie eine schwache Konstitution auf, wofür mir ihre Trichterbrust schon einen Hinweis gab; ein tuberkulinisches Wesen also, und die langen Wimpern verwiesen konkret auf Phosphorus.
Nach anfänglicher Unsicherheit war ich auch bald bei Natrium phosphoricum angelangt, das aber einiger Gaben bedurfte, bis die Homöopathie Oberhand erlangte. Damit war die Sache noch nicht befriedet, aber über Kalium jodatum, einer großen Arznei für die oberen Atemwege (und in der Familie schon mehrmals erfolgreich eingesetzt), fand ich erst im Sommer 2023 zu Kalium bichromicum. Es wurde erstmal im Juni 2023 erfolgreich in C30 eingesetzt wegen einer Stomatitis aphthosa. Eine weitere Gabe in C200 war indiziert am 7.11.2023 aufgrund eines Katarrhs, der mit einer schmerzhaften Aphthe am Zahnfleisch einherging. Auch in dieser Angelegenheit schien Kali-bi. erfolgreich zu wirken, denn dann war erstmal Ruhe.
Doch am 22.12.2023 wurde mir von einem morgendlichen Husten mit gelblichem Auswurf berichtet, der seit einer Woche bestünde, also seit dem 15.12.2023, 5 ½ Wochen nach der vorausgegangenen Gabe von Kalium bichromicum C200. Eine weitere Dosis derselben Potenz brachte rasche Besserung.
[Kalium bichromicum: zähes, gelbes oder blutiges Sekret aus Nase und Bronchien; retronasaler Katarrh; Schmerz an der Nasenwurzel; Ulcera wie ausgestanzt; punktuelle Schmerzen, wandernde Gelenksschmerzen; Gastroparese und Duodenalulcus; nächtliches Sodbrennen; Ischias; Fersensporn; absolute Arrhythmie bei Vorhofflimmern; 2 Uhr; u.v.a.m.]
Die heute 45 Jahre alte Sabine behandelte ich bisher nur ganz sporadisch. Seit aber vor vier Jahren ihr Mann gestorben ist und sie mit ihren beiden Kindern alleine gelassen hat, sucht sie öfter meinen Rat. Hypertonus, trachealer Reizhusten, thorakale Oppressionsgefühle, Herpes, Daumengelenksarthrose und eine deutliche Varikose sind unsere Themen in den letzten Jahren. Als meine therapeutische Strategie erwies sich die Dualität von Natrium sulfuricum und Kalium bichromicum erfolgreich, zuletzt als LMK-Potenzen gegeben im Wechsel gemäß einer Wirkdauer jeder einzelnen Gabe von 7 bis 8 Wochen.
Und so verlief die Behandlung in den letzten Monaten:
19. September 2023: Ausgeprägte Stamm- und Perforansvenen-Varikosis. Natrium sulfuricum C50.000K.
16. Oktober 2023: Ziehender Schmerz der Beine (wegen der Varizen?). Kalium bichromicum C50.000K.
14. November 2023: Schweres Wiedereinschlafen nach Erwachen. Natrium sulfuricum C50.000K.
12. Dezember 2023: Rhizarthrose-Schmerz und Ischialgie rechts. Kalium bichromicum C50.000K.
Wie man erkennen kann, manifestiert sich exakt nach 8 Wochen eine Symptomatik, welche die Wiederholung von Natrium sulfuricum C50.000K nahelegt, ferner präzise nach 8 Wochen und 1 Tag ein Beschwerdebild, das die nächste Gabe von Kalium bichromicum indizierte. Das ist schon frappierend, wie uns der Organismus in dieser Phase der Behandlung, nämlich mitten auf dem Weg fortschreitender Stabilisierung, immer wieder, mit zunehmender Deutlichkeit und innerhalb des zu erwartenden zeitlichen Rahmens Signale gibt für die Fortsetzung der Behandlung.
Die Schlafstörungen und die neuralgischen Symptome sprechen in solchen Fällen relativ schnell an auf die Mittelgabe, das Arthrosebild eher langsamer, aber im Allgemeinen erfolgreich, sofern der Gelenksknorpel noch nicht vollständig zerstört ist. Bezüglich der Varikosis ist mit einer mittelfristigen Besserung des venösen Rückstaus zu rechnen, ein Verschwinden varikös degenerierter Krampfadern möchte ich nicht versprechen. Sollte es zu einer chirurgischen Sanierung kommen, dürfe aber die Rezidiv-Gefahr deutlich verringert werden.
[Natrium sulfuricum: ein großes Leber- und Gallemittel, für mich das mineralische Korrelat zu Lycopodium; Pfortaderstauung mit Begünstigung von Hämorrhoiden, Varizen, Beinvenenthrombosen (Hauptmittel) und Senkungsbeschwerden – gerne auch ein Folgemittel von Sepia; Hauptmittel bei Pollinose und Asthma (mit exspiratorischem Stridor); Neurodermitis, Urticaria, Pruritus, schuppendes Handtellerekzem; Sonnen- und Wärmeempfindlichkeit; Diarrhoe; Hauptmittel bei Flatulenz (infolge schwacher Verdauungsenzyme); Einschlafprobleme, wie alle Natrium-Salze; u.v.a.m.]
Florian ist jetzt 31 Jahre alt. Nicht nur ihn, sondern seine ganze Familie betreue ich seit Jahrzehnten, nun schon in der 4. Generation. Das Wissen um deren Pathologie hat mich auch in seiner Angelegenheit zu einem guten Behandlungsweg geführt. So litt seine Großmutter ms an einer heftigen Fibromyalgie und verstarb schließlich an einem Thymusdrüsenkrebs – das von mir erst spät in seinem Wert entdeckte Kalium jodatum wäre vermutlich eine Hilfe für sie gewesen. Damit, zusammen mit Natrium sulfuricum, konnte ich aber seines Großvaters ms Leukämie wunderbar unter Kontrolle bringen. Auch die nächste Generation, seine Mutter, hat großen Gewinn von diesem hervorragenden Antisyphilitikum mit Schwerpunkt neurologischer Leiden.
So war ich also bei ihm gewappnet, als er mir im März 2020 mit einer flüchtigen Facialisparese aufwartete. Ausgelöst durch kalten Wind, gab ich zwar zunächst Causticum C200, sah dann aber später, dass dieses Kalium jodatum der bessere Weg war (so wie ich weiter ober erwähnte, dass ich Lycopodium als Natrium sulfuricum verwerte, so schließe ich bei Causticum auf ein Kalium-Salz, das ja dessen Hauptelement darstellt).
Nach dieser initialen Symptomatik wechselten sich bei ihm sowohl Lähmungserscheinungen wie Taubheitsgefühle ab, was schwer mit einer klaren Diagnose zu benennen ist. Vielmehr sehe ich eine mögliche genetische Stoffwechselstörung dahinter, welche die Nervenfunktion systemisch beeinträchtigt.
Mit Kalium jodatum im Wechsel mit Natrium phosphoricum konnte ich ihm aus jedem Rezidiv wieder heraushelfen, wobei auch der Phosphor-Anteil für gewisse Taubheitsgefühle verantwortlich zu sehen ist, vor allem der Akren. Mit beiden Arzneien war ich schon bei der C100.000K angekommen, konnte damit bereits längere Phasen der Stabilität erreichen, bestellte ihn auch nicht mehr regelmäßig ein, sondern empfahl eine Wiedervorstellung nach Bedarf. Aber eine Fortsetzung der Behandlung erweist sich auch nach 3 ¾ Jahren als weiterhin erforderlich, wie sich nun zeigte. So erhielt er zuletzt Kalium jodatum CMK am 22. September 2023, meldete sich dann aber wieder am 29. Dezember 2023 wegen einer akut aufgetretenen motorischen Schwäche der linken Zungenseite und einer Taubheit der rechten Wange – 3 Monate und 7 Tage nach der letzten Gabe!
[Kalium jodatum: Atrophie und Tumore von Drüsen; fortgeleitete neuralgische Schmerzen, u.a. Ischialgie mit nächtliche Verschlimmerung; Jucken von Narben; Rhizarthrose; Schulterschmerz links; paroxysmale Tachykardie (tumultuöse Herzaktion); Hyperthyreose, Morbus Basedow, heiße Schilddrüsenknoten; Laryngitis; Asthma bronchiale mit inspiratorischem Stridor, 5 Uhr; u.v.a.m.]
Warum die Korsakoff-Potenzen für dieselbe Wirkintensität wesentlich höhere Zahlen an Dynamisierungsstufen benötigen, darüber kann ich nur spekulieren. Liegt es an der schlechteren Trennschärfe der einzelnen Stufen untereinander im Vergleich der Mehrglasmethode gegenüber der Einglasmethode, bei der lediglich ausgeschüttet und wieder nachgefüllt wird anstelle von exakt einem Tropfen auf 100 Tropfen zu verdünnen? Oder ist die Handverschüttelung effektiver als die maschinelle?
Noch ein Wort zur Dauer einer konstitutionellen Behandlung: Im Regelfall rechne ich mit 1 ½ Jahren, bis man Oberhand hat über das Leiden, noch einmal 1 ½ Jahre, bis die Beschwerden so gut wie bereinigt sind. Bis dahin lege ich Wert auf regelmäßige Konsultationen. Dann aber verfahre ich eher bedarfsabhängig, möchte den Patienten aber dennoch in gewissen Abständen sehen, viertel- oder halbjährig, auch mal nach ein oder drei Jahren, um das Erreichte zu stabilisieren. Und das kann sich noch 7 bis 10 Jahre hinziehen. Krisensituationen können nämlich noch für einige Zeit Rezidive auslösen (vielleicht war das auch im 3. Fall ausschlaggebend, denn dem Rückfall ging ein anstrengender Umzug voraus, im Zustand einer therapeutischen Lücke).
Auch für intermittierende Komplikationen muss man bereitstehen, denn diese geben oft sehr wichtige Hinweise für den Fortgang der Behandlung. Dazu kommen noch Mittel für bestimmte Zustände, einseitige Auslenkungen der Pathologie, die ergänzend zur konstitutionellen Behandlung mit den beschriebenen mineralischen Salzen einzusetzen sind, etwa Spezifika wie Conium bei Tumoren, oder Traumamittel wie Ignatia, Aconitum etc. Auch die zugehörigen Nosoden scheinen mir immer wichtiger zu werden, je weiter die Therapie fortgeschritten ist. Für all dies gelten natürlich die in der Kentschen Skala angegebenen Zeiten nicht.
Ich hoffe, mit diesen Fallskizzen meine – zugegeben – etwas unkonventionelle und befremdliche Arbeitsweise etwas zugänglicher und meine bisherigen Veröffentlichungen verständlicher gemacht zu haben.
Bamberg, im Dezember 2023