Ein Mensch ist geboren und trägt schon enorme Lasten auf seinen Schultern. Ich meine weniger die hohe Staatsverschuldung, die von künftigen Generationen zu bewältigen ist. Als Homöopath denke ich mehr an die hereditär-miasmatische Belastung, die das Leben, wohl auch den Charakter dieses neuen Menschen prägen wird, in Zusammenwirken mit seinen biografischen Erfahrungen.
Die größten Bürden bringt das syphilitische Miasma mit sich, beschrieben in den Bildern der wichtigsten Antisyphilitika Aurum metallicum, Arsenicum album und Mercurius solubilis. Die letzten Jahre habe ich mich durch deren Wirkspektrum durchgearbeitet und viele Erfahrungen gesammelt. Und freilich: Nicht die einzelnen Elemente haben mir Erfolge gebracht, sondern deren salzartigen Verbindungen – aber über diese meine Bevorzugung kombinierter Arzneien habe ich mich ja schon reichlich produziert.
Hyperaktive Kinder z.B.: Mercurius ist hier immer erwähnt, hat zwar als Einzelsubstanz kaum Effekt gezeigt, wohl aber in Verbindung als Mercurius phosphoricus oder Mercurius sulfuricus. Und in den letzten Monaten fielen mir weitere Quecksilber-Salze zu, die nahezu unbekannt, aber offenbar von großem Wert sind, und über die ich gerne anhand kurzer Falldarstellungen berichten möchte: Mercurius arsenicosus, Mercurius silicicus und Mercurius chloratus natronatus.
Diese Kombinationen (dankenswerter Weise im Sortiment von Magister Robert Müntz, Eisenstadt im Burgenland/Österreich; unter www.remedia.at zu beziehen) haben mir in meinem Arsenal offensichtlich gefehlt, denn ihr Einsatz hat jungen wie älteren Menschen eindrucksvoll geholfen, um die ich mich zuvor lange Zeit vergebens bemüht habe. Darum erlaube ich mir, schon nach wenigen Monaten der Behandlung mit diesen Arzneien ihre Geschichte darzustellen, obwohl im Allgemeinen soliden Fallschilderungen eine längere Beobachtungszeit gegönnt werden sollte.
Franz, jetzt sieben Jahre alt, kam in meine Behandlung vor fast fünf Jahren. Er hatte gerade eine beidseitige Oberschenkelfraktur hinter sich, die aufgrund eines eher leichten Traumas eingetreten war und die befürchten ließ, dass seine Knochensubstanz nicht besonders belastbar ist. Franz litt unter ständigen Erkältungen, hatte üppige adenoide Vegetationen der Rachenmandel und war ständig verschnupft. Die Nase war chronisch verlegt, er atmete nur durch den Mund, schnarchte nachts und hatte einen wund machenden Speichelfluss. Pseudocroup quälte ihn manche Nacht und hinterließ jedes Mal einen bis zu zwei Wochen anhaltenden Husten.
Ein zweites Problem war seine Kopfhaut, die von dicken Platten eines krustigen Milchschorfs überzogen war. Auch die Augenbrauen waren befallen von einem roten, schuppenden Exanthem. Die übrige Haut war relativ unauffällig mit Ausnahme kleinerer intertriginöser Exanthemstellen der Achseln und zwischen den Zehen. Die übrige Anamnese brachte keine weiteren Erkenntnisse außer einem eitrigen Nagelbett in der Säuglingszeit. Die Persönlichkeitsentwicklung und sein Verhalten waren unauffällig.
Ein kurzer Blich auf die Familienanamnese: Die Mutter war behelligt durch eine Neigung zu Blasen- und Scheidenentzündungen, sie hatte schon eine Fehlgeburt in der 25. Schwangerschaftswoche, während der Stillzeit mit Franz reichlich Brustentzündungen, sie neigte zu Migräne, in ihrer Familie gab es Tuberkulose, Thrombosen, Apoplex und Krebs. Der Vater war relativ stabil, aber auch in seiner Familie gab es Herzinfarkte, Krebs, Apoplex und Suizid.
Mit Franz kam ich einfach nicht vom Fleck. Die Auswertung seiner Symptome erbrachte an vorderster Front Phosphor, danach folgte Silicea und später Sulfur. Aber weder Phosphor noch all seine mir bekannten Verbindungen inklusive Natrium phosphoricum oder Mercurius phosphoricus befreiten ihn wirklich von seinen chronischen Nasenproblemen und ich musste hinnehmen, dass eine Adenotomie durchgeführt wurde, die aber auch nur für begrenzte Zeit Linderung brachte. Auch die flankierend eingesetzten Nosoden Tuberculinum, Syphilinum, Medorrhinum und auch Thuja halfen nicht weiter, bis ich schließlich zu Silicea und Natrium silicicum überging. Ab dann war eine gewisse Stabilisierung zu erkennen. Eine Besserung zeigten die Kopfkrusten; das Achselexanthem aber meldete sich zurück ebenso wie ein Speichelfluss, und schließlich trat eine Otitis auf, die eine Hörstörung infolge Tubenkatarrhs hinterließ.
Das waren alles Zeichen von Mercurius (dessen Salze mir mittlerweile 90% aller chronischen Otitiden abdecken), und just zu diesem Zeitpunkt, nämlich im Frühjahr 2011, fiel mir die Kombination Mercurius silicicus in die Hände. Franz erhält es in C200.
Genau sechs Monate später kam er mit seiner Mutter wieder in die Sprechstunde und man berichtete von einem sehr stabilen halben Jahr. Er atmet durch die Nase, das Schnarchen ist unbedeutend ebenso wie das Zähneknirschen. Die Ohren waren rasch genesen nach der letzten Medikation, lediglich die Kopfhaut zeigt nun wieder etwas Krusten und Schorfe. Es war Zeit für eine zweite Gabe Mercurius silicicus C200, in dem ich nun – nach langer Suche – die passende Arznei für Franz sehe.
Frederick, jetzt neun Jahre alt, kam mit drei Jahren in meine Behandlung mit einem akuten Problem, nämlich einem Husten, vor allem nachts störend, der das Kind weinend gegen 2.00 Uhr bis 3.00 Uhr erwachen ließ. Tagsüber war er fast frei davon. Gleichzeitig wurde von einer Diarrhoe berichtet, wässrig, nach jedem Trinken. Es war keine Zeit für eine Anamnese, die Geschichte des Kindes gab ohnehin nur eine Neurodermitis preis, allerdings schon im Alter von drei Monaten, mit intensivem Kratzen. Da beide Eltern bereits in meiner Behandlung waren, war mir wenigstens deren gesundheitliche Belastung, Familiengeschichte und Biografie vertraut.
Als erste Arznei erhielt Frederik Arsenum sulfuratum flavum C200: der Husten klang rasch ab, der Stuhl normalisierte sich und das Ekzem kam kurz zurück. Zwei Monate später allerdings meldete sich eine Konjunktivitis, die, wie alle Entzündungen der oberflächennahen Schleimhäute, ein Hinweis auf Quecksilber oder eines seiner Salze sein kann. Und so wechselte ich von Ars-s-f. zu Mercurius sulfuricus C200.
In der Folgezeit sah ich Frederick nur sporadisch und erfuhr von einem chronischen Mukotympanon rechts und später von einer auffallenden Neigung, sich die Haare auszureißen, einer Trichotillomanie. Arsen ist hier die leitende Arznei, unter der Rubrik “Quält sich selbst” zu finden, und so spielte ich immer wieder mit Arsen-Salzen, sei es Ars-s-f, sei es später Natrium arsenicosum. Frederick blieb leidlich stabil, aber in den folgenden Jahren kehrte die Trichotillomanie immer wieder zurück, chronifizierte sich das Problem der Hörstörung aufgrund eines schlecht belüfteten Mittelohrs und wurden nun mit Eintritt in die Schule auch Konzentrationsprobleme verstärkt wahrgenommen. Neben dem Haare Ausreißen begann er auch Löcher in Pullis oder Decken zu beißen, zeigte einen Leistungsabfall in der Schule, war auffallend vergesslich und entwickelte starke nächtliche Wachstumsschmerzen. In der Schule war er vor allem in Mathematik schlecht.
Alles dies ließ also auch hier das Miasma der Syphilinie wahrnehmen, erbrachte weiterhin Hinweise auf Quecksilber einerseits und Arsen andererseits, aber erst die Entdeckung von Mercurius arsenicosus, gleichfalls im Frühjahr 2011, stellte für Frederick die Arznei zur Verfügung, die erstmals, gegeben in C200, fundamental half, Körper wie Charakter stabilisierte.
Im Oktober 2011 bemerkte die Mutter die Rückkehr einiger dieser Probleme, aber eine zweite Gabe Mercurius arsenicosus C200 stabilisierte all die beschriebenen Fronten. Die Aggression ließ nach, eine neu aufgetretene Vorhautentzündung verschwand, die Wachstumsschmerzen blieben aus. Die Wahrnehmung war wieder ungetrübt und in der Schule fasste er nun wieder Tritt.
Diese mir bis vor kurzem völlig unbekannte Kombination (Na2HgCl4) ist das Pendant zu Aurum muriaticum natronatum (NaAuCl4), welches in meiner Arbeit schon eine bedeutende Rolle spielte und wesentlich mehr Einsatz fand als das bekanntere Aurum muriaticum. Merc-chl-n. vereinigt aus meiner Sicht Sykose und Syphilinie und ich erwarte sehr viel Nutzen davon. Die Ergebnisse des schon relativ breiten Einsatzes in meiner Praxis lassen sich allerdings noch nicht sicher verwerten, doch wenigstens in einem Fall scheint mir endlich der Durchbruch gelungen zu sein, auf den ich zwanzig Jahre gewartet habe:
Petra G., jetzt 53 Jahre alt, betreue ich seit 1991. Ich bin ihr ein geschätzter Hausarzt und guter Freund, aber von meiner homöopathischen Kunst konnte ich sie bisher nicht überzeugen. Alles Bemühen, ihre Beschwerden auf diese Weise zu lindern, verlief im Sande. Ihr größtes Problem, massive Durchschlafstörungen, konnte ich bisher nicht bereinigen. Entweder sind es die Tagesgeschäfte, die ihr nachts nachgehen, oder es ist die Erwartung der Herausforderungen des kommenden Tages, welche ihr den Schlaf rauben. Sie ist quirlig, bezeichnet sich als hyperaktiv und ist in anspruchsvoller beruflicher Position tätig; eine sehr geschätzte Chefin eines mittelständigen Unternehmens.
Ihre Geschichte (begleitet von Hinweisen zu Arzneimittelwahl): Sie kam schon zur Welt mit einer Nierenbeckenentzündung (Sykose) sowie einer Otitis media (Mercurius?) – eigentlich würden diese beiden Informationen aus heutiger Sicht schon für die Mittelwahl genügen. Aber weiter: Als Säugling hatte sie lange Zeit auch eine eitrige Konjunktivitis (Mercurius?), später plagten sie häufige Gastritiden (was homöopathisch weniger klar verwertbar ist). Als Kind quälten sie Träume vom Fallen aus großer Höhe (Thuja), später litt sie unter ausgeprägten Kopfschmerzen bei Föhnwetter (Natrium muriaticum), sie erzählte von einer ständig laufenden Nase (Natrium muriaticum), einer großen Anfälligkeit für Scheidenpilze (Sykose). Eitrige Gesichtsexantheme ärgerten sie als junge Frau. Auf Reisen leidet sie unter Obstipation und auf öffentlichen Toiletten kann sie nicht Wasser Lassen (beides Natrium muriaticum).
Im Verlauf unserer Betreuung beklagte sie vorübergehend das Phänomen einer stark verzögerten Akkommodation der Augen auf unterschiedliche Entfernungen (Natrium muriaticum). In jedem Winter vermerke ich einen kälteempfindlichen Hals in ihrer Akte (Mercurius, Silicea). Sie weist stark geriefte Nägel auf (Thuja) und eine chronische Stauungsinduration oberhalb der Sprunggelenke beidseits, eine Projektionszone der Niere im Meridiansystem der Akupunktur (Niere = Zielorgan des sykotischen Miasmas).
Das Wirken der Sykose ist nicht zu übersehen und Hinweise auf die von mir eng mit der Sykose verknüpften Natrium-Salze gibt es reichlich. Doch alle Natrium-Verbindungen, Thuja, Medorrhinum, Silicea und seine Salze bis hin zu Aurum muriaticum natronatum waren wirkungslos. Erst Mercurius chloratus natronatus schien mir wie für meine Patientin geschaffen und kam nun schon dreimal in C200 zum Einsatz. Sie beschreibt sich seither als stabiler und räumt einen wesentlich besseren Schlaf ein, holt sich mittlerweile die Arznei routinemäßig bei meinen Helferinnen ab mit einem Hinweis auf guten Effekt und bestätigt mir dies auf Nachfrage anlässlich der Niederschrift dieses Aufsatzes.
Da sie sorgfältig über ihren Schlaf Buch führt, lässt sich der Erfolg sogar statistisch belegen: Die drei Monate vor Merc-chl-n. verzeichnete sie 56 völlig oder weitgehend schlaflose Nächte, die drei Monate danach (die Arznei erhielt sie bisher 3 mal im Abstand von ca. 35 Tagen) nur 13 Nächte dieser Kategorie. Überwiegend guter Schlaf ohne medikamentöse Unterstützung wurde im Verhältnis 5 mal zu 22 mal verbucht.
Freude über das Ergebnis oder Enttäuschung, weil sie noch nicht durchschläft? Sehen wir bei Hahnemann nach: “Die Heilung zehn-, zwanzig-, dreißig- oder mehrjähriger großer chronischer Krankheiten kann man schnell verrichtet nennen, wenn man sie in einem bis zwei Jahren zu Stande bringt”, schreibt er in den Chronischen Krankheiten, Band I. Es besteht also noch Hoffnung!
Die Aufbereitung dieser Fallgeschichte möge zeigen, dass meine Mittelwahl sich einerseits auf gute Symptome stützt, soweit vorhanden und verwertbar, andererseits aber stets das Miasma berücksichtigt, das sich im Hintergrund präsentiert.
Die hier beschriebenen Arzneien tauchen vermutlich in keinem Repertorium auf, ich weiß nichts über ihre Urheberschaft noch ist mir irgendwelche Literatur darüber zugänglich. Sie dürften in der Zeit Kents eingeführt worden sein, also vor etwa 100 Jahren. Ich finde zu ihrem Einsatz nur über das Zusammenfügen ihrer Einzelkomponenten unter Verwertung der miasmatischen Grundlagen. Wie ich an anderer Stelle schon vermerkt habe, begründe ich den Nutzen solcher Kombinationen damit, dass sie mehrere Miasmen vertreten, ein Umstand, den ich allen meinen chronischen Behandlungsfällen zuschreiben kann.
Die genannten Arzneien bereichern meine Arbeit ungemein, es kann aber eine größere Mühe bedeuten, die richtige Kombination zu finden, und es kann zu Enttäuschungen führen, wenn man alleine auf das Wirken eines derartigen Salzes setzt. Eine solche Arznei ist oftmals nur das Rückgrat der Therapie; um wirkliche Stabilität zu erzeugen, bedarf es flankierender Gaben der beteiligten Nosoden sowie weiterer Arzneien, die Kausalitäten beantworten oder bestimmten einseitigen Krankheitsausprägungen entgegentreten.
Als Beispiel sei ein Fall von Mercurius sulfuricus geschildert: Eine junge Frau, Corinna D., jetzt 21 Jahre alt, leidet einerseits unter eine allergischen Atemwegserkrankung inklusive Bronchialobstruktion gegen Hausstaub und Pollen, andererseits unter massivem Pruritus im Genitalbereich. Mercurius sulfuricus erwies sich als die tragende Arznei, konnte jedoch die Symptomatik nicht alleine bereinigen. So bedurfte der Ausbruch der Pollinose mehrmals der ergänzenden Gabe von Psorinum C200 (unterstützt den Schwefel) und eine heftige Exazerbation des starken Juckens der Gabe von Syphilinum C200 (unterstützt das Quecksilber) – jeweils erfolgreich. Diese Vorgehen hat sich mir in fast allen anderen Krankheitsfällen als notwendig und sinnvoll erwiesen.
Auf der Rückfahrt vom Jahreskongress des DZVhÄ in Aachen, Juni 2011, saß in meinem Zugabteil ein offenbar von Geburt blinder Säugling. In mein Mitgefühl mischte sich große Wut, weil wir Homöopathen mit Fleiß, Glück und Geschick es in der Hand hätten, solche Schicksale zu vermeiden, unser Potential aber nicht nutzen, sondern stattdessen uns den Humbug vom Nordamerikanischen Weißkopfseeadler und anderen Vogelfedern anhören – quo vadis?
Ich verwahre mich gegen jede Form von Homöopathie, die nur der Wellness dient und der Schwärmerei und die nicht sieht, welch große Aufgabe darin besteht, die Hoffnungen von Leidenden zu erfüllen und die uns Anvertrauten von ihren Lasten zu befreien.
Bamberg, im November 2011
Beschrieben wird der Einsatz nahezu unbekannter Quecksilber-Salze, deren Indikation lediglich über ihre Einzelkomponenten gefunden werden kann vor dem Hintergrund ihrer miasmatischen Zugehörigkeit.
Mercurius arsenicosus, Mercurius silicicus, Mercurius chloratus natronatus.
The application of nearly unknown combinations of mercury ist described, whose indication is to find only from their single components at the background of their miasmatic relationship.
Mercurius arsenicosus, Mercurius silicicus, Mercurius chloratus natronatus.
Erschienen in der Allgemeinen Homöopathischen Zeitung 5/2012 und hier veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Haug-Verlags http://www.medizinverlage.de/SID-879A7F31-E3841F01/zeitschriften/01757881.html