Es mag zehn oder fünfzehn Jahre her sein, dass den sogenannten Schüßler-Salzen, obwohl nie in Vergessenheit geraten, plötzlich eine hohe allgemeine Aufmerksamkeit zu Teil wurde. Kurse für Laien und professionelle Therapeuten wurden angeboten, und mittlerweile dürfte jede Apotheke einen Vorrat an diesen Medikamenten bereithalten. Obwohl selbst die klassische Homöopathie ausübend – in Hochpotenzen –, kam mir diese Entwicklung sehr entgegen, was ich im Folgenden erklären kann. Ich näherte mich nämlich diesen Arzneien auf meinem eigenen Weg und in der eigenen Art der Anwendung.
Seit über 35 Jahren mit dieser Heilmethode befasst, musste ich feststellen, dass keineswegs jedes unserer Medikamente geeignet ist, grundsätzlich jede Krankheit zu heilen. Ich übernahm die Erkenntnis unserer Vorgänger – dies beginnt schon bei Hahnemann –, dass vor allem die mineralischen Mittel bei chronischen Krankheiten bzw. in der konstitutionellen Therapie den Vorrang haben. Schließlich sah ich aber auch, dass es insbesondere diese Salze sind, diese aus Kation und Anion, Säure und Base zusammengesetzten Kombinationen, die mir in meiner Therapie am meisten Gewinn bringen. Und ich musste feststellen, dass es Schüßler war, der hierzu wohl den wichtigsten Grundstock lieferte, und dass es James Tyler Kent war, der diese Mittel sehr zu schätzen wusste und um eigene Entdeckungen bereicherte (auch Emil Schlegel in Tübingen arbeitete gerne damit). Offenbar hat die Generation um und nach Kent enorm viel mit diesen Kombinationen experimentiert, wie ein Blick in das Angebot des österreichischen Apothekers Robert Müntz (Remedia) zeigt, der eine unglaubliche Menge von Salzen anbietet, über deren Ursprung kaum etwas bekannt ist.
Ich glaube, Kent tat es, und ich tue es auch, nämlich diese Salze in Hochpotenzen, also ab C30 oder C200 aufwärts einzusetzen, und ich sehe keinen Unterschied in der Wirkung zwischen einer D6, häufiger genommen, oder einer C200, als einzelne Gabe eingesetzt. Da ich aber viele Patienten auswärts und telefonisch betreue, kommt es mir sehr entgegen, ihnen einen Gang in die Apotheke zu empfehlen, um sich z. B. Natrium phosphoricum in D6 zu holen, bis schließlich meine C200 mit der Post ankommt.
Viel wusste ich nicht über Schüßler, außer dass er von den Homöopathen nicht besonders ernst genommen wurde, wahrscheinlich deshalb, weil er seine Arzneien, von Calcium fluoratum bis Silicea, vor theoretischem Hintergrund und aus der klinischen Erfahrung propagierte und nicht als Produkt von Arzneimittelprüfungen, wie es sonst in der Homöopathie gefordert wird. Nun fiel mir das Buch von Peter Emmrich, M.A., Diplom-Biologe und Allgemeinarzt, und Prof. Gert Oomen, Historiker, in die Hand, eine schöne Biografie über Heinrich Wilhelm Schüßler. Ein liebevoll aufgemachtes Werk ist dies, eine bibliophile Kostbarkeit, zu dessen Entstehen offenbar eine enorme Recherche-Arbeit erforderlich wurde. Es beschreibt nicht nur Schüßlers Herkunft aus Zwischenahn, seine schwierige Jugend mit einem Vater, der wegen Unterschlagung einige Jahre im Gefängnis absaß mit der Folge schließlich eines sehr armen Lebens, sein Studium in Paris, Prag, Berlin und Gießen, bis zu seiner Niederlassung und seinem langen Wirken in Oldenburg.
Es beschreibt, wie Schüßler einen unheimlichen Durchsetzungswillen entfaltete, um zum Medizin-Studium überhaupt zugelassen zu werden und die Freiheit der Niederlassung zu gewinnen, es beschreibt aber auch sehr präzise, welche Vorläufer es zu Schüßlers Gedankengut gab. In der damaligen Zeit – Schüßler lebte von 1821 bis 1898 – erfuhr die Medizin einen Umbruch. Bis dahin als mystische Natur-Medizin kläglich versagend, stellte sie sich anhand der damaligen naturwissenschaftlichen Erkenntnisse auf eine neue Basis. Schüßler, Virchow und Kneipp wurden im selben Jahr geboren und wirkten mit neuen Erfahrungen auf der Basis chemischer, biologischer und physikalischer Einsichten.
So hatte Schüßler, wie uns dieses Buch aufzeigt, durchaus seine Vordenker, die ein großes Augenmerk darauf legten, welcher Haushalt an mineralischen Mitteln den körperlichen Funktionen zugrunde lag. Und diese postulierten auch, dass bei bestimmten Krankheiten dieser Haushalt in Unordnung geraten sei und per Substitution behandelt werden müsse. So etwa war es eine zeitige Erkenntnis, dass bei unzulänglichem Knochenbau eine Zufuhr von Calcium phosphoricum heilsam wäre. Aus diesen Überlegungen heraus formulierte Schüßler seine salzartigen Kombinationen, sah aber in deren Anwendung keine Substitution, was bei einer D6 wegen seiner hochgradigen Verdünnung auch nicht denkbar wäre, sondern eine energetische Harmonisierung des betreffenden Stoffwechsels.
Schüßler verstand sich zeitlebens als Homöopath, fühlte sich aber von seinen Kollegen ausgegrenzt. Schüßler provozierte allerdings die Ärzteschaft, indem er sich dahin verstieg, mit diesen Salzen alles heilen zu können und das übrige Angebot der Homöopathie nicht mehr zu gebrauchen – eine abgekürzte homöopathische Therapie nannte er das. Später sprach er auch nicht mehr von Homöopathie, sondern von Biochemie.
So wertvoll mir seine Salze geworden sind (im englischen Sprachraum tissue salts), so sehr muss ich Schüßler in diesem Punkt widersprechen, denn freilich geht es nicht ohne pflanzliche Akutmittel, ohne psychotrope Arzneien oder Nosoden. Schüßler räumte aber selbst ein, dass der Stellenwert eines solchen Systems und solcher Arzneien nicht innerhalb weniger Jahre zu erfassen sei, sondern, das ist auch meine Ansicht, Jahrzehnte oder sogar mehrerer Generationen bedarf zur Verifizierung. Und so forderte Schüßler auch seine Kollegen auf, ihm bei der Sammlung von Erfahrungen mit seinen Arzneien zu Hilfe zu kommen.
Schüßler machte sich unter den Patienten sehr beliebt, weil er sich von den Quacksalbern seiner Zeit absetzen konnte und den Menschen viel Hilfe gab, auch wenn er deutlich zur Kenntnis nahm, was ihm nicht gelingen wollte, und stets nach besseren Lösungen suchte. Zahlreiche Laienverbände unterstützten ihn bei seiner Arbeit. Er war ein eigensinniger Herr, eine stattliche Erscheinung, zeitlebens Junggeselle, der es verstand, gegen alle Widrigkeiten seinen eigenen Weg zu gehen.
Zum Schluss sei noch angemerkt, dass ich selbst, wie Schüßler, auf der Suche nach besseren und nachhaltigen Lösungen bei chronischen Krankheiten – womit sich die klassische Homöopathie noch schwertut – zu 12 dieser Salze gekommen bin, die aber nur zum Teil mit Schüßlers Arsenal übereinstimmen und die ich in hohen bis höchsten Potenzen einsetze. An diesem Punkt ist einzuwenden, dass es in der konstitutionellen Behandlung eines Patienten mehrere Similes gibt, die auch lange Zeit gut wirken können, zumal wenn sie in Tiefpotenzen und häufigen Gaben eingesetzt werden. Die Wahrheit, das Similimum, zeigt sich aber erst in der längeren Betreuung, manchmal erst nach 20 bis 30 Jahren, und mit dem Gang in die höchsten Dynamisierungsgrade.
Insofern ist der Schüßlersche Fundus, ebensowenig der seiner Nachfolger, die nochmal 12 Ergänzungssalze postulierten – das wäre übrigens noch ein eigenes Kapitel wert gewesen –, nicht in Stein gemeißelt. Das Hauptverdienst Schüßlers scheint mir die Wertschätzung dieser Salze zu sein, Kombinationen eben zweier Elemente anstelle von Einzelsubstanzen wie Phosphor, Sulfur, Arsen etc., die bis heute die klassische Homöopathie dominieren.
Und tatsächlich hat Hahnemann schon diese Möglichkeit angedacht:
„Einzelne zusammengesetzte (complizirte) Krankheitsfälle gibt es, in welchen das Verabreichen eines Doppelmittels ganz homöopathisch und echt rationell ist; wenn nämlich jedes von den zwei Arzneimitteln dem Krankheitsfalle homöopathisch angemessen erscheint, jedes jedoch von einer anderen Seite; oder wenn der Krankheitsfall auf mehr als einer der von mir aufgefundenen drei Grundursachen chronischer Leiden beruht, und außer der Psora auch Syphilis und Sykosis mit im Spiel sind.“
Hahnemann hat diesen Gedanken nicht weiter verfolgt, weil er sich nicht eine „Vielmischerei“ vorhalten lassen wollte, die zu seiner Zeit gängig war und die gerade er so vehement bekämpfte. Die „Vielmischerei“ mit den Schüßler-Salzen, die heute gerne propagiert wird, nämlich zeitgleich und parallel 3 oder 4 Salze zu geben, lehnte Schüßler entschieden ab.
Das Buch war eine schöne, leicht zu lesende Lektüre, der ich wertvolle Erkenntnisse verdanke.
Bamberg, im März 2023