Ich bin niedergelassener Arzt für Allgemeinmedizin in Bamberg und habe mich auf die Behandlung mit klassischer Homöopathie spezialisiert. Nun sind der Stolz unserer Stadt die Symphoniker, ein Orchester der Spitzenklasse, und ich genieße es, neben einigen anderen aktiven Berufs- und Amateur-Musikern, auch aus deren Reihen einige Patienten betreuen zu dürfen (u.a. weil sich damit auch immer wieder die Gelegenheit zu einem musikalischen Gedankenaustausch ergibt). Schließlich spiele ich selbst Klavier und leidlich schlecht auch Violine, kann also auch ein bisschen mitreden.
Lampenfieber ist ja nun eines der am meisten verbreiteten Leiden, und wenn wir, kraft der in der Homöopathie üblichen und zur Ausübung dieser Heilmethode unverzichtbaren ausführlichen Anamnese, uns ein gutes Bild vom Wesen unseres Patienten machen konnten, so können wir seine Belastbarkeit, neuerdings Resilienz genannt, gegen den Bühnenstress sicher etwas korrigieren mit unseren Arzneien. Bedeutsam sind aber, v.a. bei Streichern, Sehnen- und Gelenksprobleme. Weniger die Überlastung durch reichlich Üben und Spielen setzt diesen Strukturen zu (was durch ein wenig Schonung sich von selbst legen würde) als vielmehr die chronische Anspannung durch einen zu hohen Muskeltonus, der dem Betroffenen meist grundlegend zu eigen ist.
Und das ist ein Problem des äußeren Drucks (denn in so ein Orchester zu kommen, erfordert schon viel Fleiß und Ehrgeiz), noch mehr aber der Persönlichkeit des Patienten selbst. Meines Erachtens entstehen 80% aller orthopädischen Leiden im Schlaf, weil wir im Geiste, nämlich im Traumleben – unserem Unterbewusstsein ausgeliefert – weiter arbeiten, aber uns dabei nicht durch die körperliche Aktivität des Tages lockern. Die Sehnen kommen in eine Dauerspannung, der Gelenksknorpel wird leergepresst. Dumm nur wenn die Auswirkungen, also Entzündung, Vernarbung, Arthrosen, jene Strukturen treffen, die der Streicher braucht: Schultern, Ellbogen, Hand- und Fingergelenke und die beteiligten Sehnen mit der Folge von Dupuytrenscher Kontraktur, Schnappfinger, Rhizarthrose etc.
Schlimmer noch sind die unwillkürlichen Aktivitäten, etwa die Spasmen einzelner Finger, die schon manche Musiker-Karriere zerstört haben. Sicherlich wird man in solchen Fällen alles tun, was Linderung verheißt wie physikalische Therapie, Entspannung, autogenes Training oder auch die Feldenkrais-Methode. Aber auch innerhalb der Homöopathie finden sich Wege, die Hilfe ermöglichen bei all diesen orthopädischen Problemen: die Kalium-Salze können hier wirksam zum Einsatz gebracht werden.
In substanziellen Mengen erhöht Kalium physiologischerweise den Muskeltonus, aber in homöopathischen Hochpotenzen, d.h. zig-fach verdünnt und verschüttelt – dynamisiert, wie wir sagen – reduzieren sie die Spannung, sorgen für besseren Schlaf und für mehr Energie. (Dieses Verdünnen einer Ausgangssubstanz in unendliche Dimensionen ist das, worunter die Glaubwürdigkeit der Homöopathie in der Wissenschaftswelt leidet; wir wissen selbst nicht, auf welche Weise unsere Arzneien wirken, lassen uns aber deshalb die Freude an den Erfolgen nicht vermiesen. Das „Simile-Prinzip“, welches der Methode zugrunde liegt, bedeutet, dem Patienten diejenige Substanz in potenzierter Form zu geben, von der wir wissen, dass deren pharmakologische Wirkung einen seinem Krankheitsbild ähnlichen Zustand hervorbringen kann.)
Aber die Kalium-Salze müssen individuell ausgewählt werden, wie meist alles in dieser Methode. Bei mir zur Anwendung kommen vor allem diese Kombinationen: Kalium phosphoricum, Kalium sulfuricum, Kalium arsenicosum, Kalium silicicum und Kalium jodatum.
Herbert G., 59, fühlte sich in seiner Arbeit als Cellist durch einige Handicaps belastet. Ein schnappender Finger der linken Hand bedrohte seine Einsatzbereitschaft, wobei Cortison-Injektionen und chirurgische Eingriffe nicht zu wirklich befriedigenden Resultaten führten. Die Ursache für dieses Dilemma schien mir eine Anschwellung der Beugesehne zu sein, auf oben genannte Dauerbelastung zurück zu führen, mit dem Resultat, dass diese durch die Sehnenscheiden (einem Bowdenzug beim Fahrrad zu vergleichen) und die sogenannten „Ringbänder“ nicht mehr gleiten konnte, ohne sich zu verhaken. Auch die Rhizarthrose bereitete ihm Schmerzen, eine Degeneration des Daumensattelgelenks (nahe am Handgelenk). Schließlich gab es auch noch einen sogenannten Tennisarm, eine Entzündung von Sehnenansätzen am Ellenbogengelenk. Und noch ein interessantes, für ihn und seine Berufsarbeit aber sehr unangenehmes Phänomen fand sich bei ihm: eine „Fingerprint-Degeneration“ der Hornhaut der Augen, die das Notenlesen stark beeinträchtigte.
Alle diese Phänomene konnte ich vom hohen Muskeltonus ableiten, sogar die Hornhaut-Veränderungen. Meines Erachtens pressen viel Menschen nicht nur die Kiefer im Schlaf zusammen, sondern auch die Augenlider. Nun aber besteht das Lid aus einem ringförmigen Muskel, dessen Fasern oder Stränge sich unter diesem Druck über Nacht in die weiche Struktur der Hornhaut einprägen, so dass diese eine wellenartige Deformierung erfährt, was die optischen Qualitäten des Auges erheblich stört.
Eine längere Begleitung mit regelmäßigen Gaben, zunächst von Kalium sulfuricum, verschaffte ihm Linderung, wirklich gut wurde alles aber erst mit Kalium jodatum, zu dem ich erst nach einiger Zeit fand, als neben anderen Beobachtungen ein heftiger Katarrh, eines der Wesensmerkmale dieses Mittels, mich für diese Arznei entscheiden ließ.
Bamberg, im November 2017
Veröffentlich in der Zeitschrift Das Liebhaberorchester 2/2018 – 1/2019