Dr. Ernst Trebin

Allgemeinmedizin - Homöopathie

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Kein bergend' Nest

In der Homöopathie aktuell, Ausgabe 4/2010, schrieb ich einige Gedanken nieder über das karzinogene Miasma und seine Bereinigung durch die Kali-Salze (auch nachzulesen unter Carcinosin und die Kali-Salze ). Und in der Ausgabe 4/2013 erweiterte ich diese Betrachtungen durch Ausführungen darüber, dass vermutlich nicht wenige von uns (und unseren Patienten) neben einer eventuell anderen Therapielinie in der konstitutionellen Behandlung auch etappenweise oder intermittierend einer ergänzenden Behandlung mit Kali-Salzen und gegebenenfalls der Nosode Carcinosin bedürfen (Der Titel: Eine Vorliebe für Achterbahnen - oder sind wir nicht alle ein bisschen Kali?).

Dieses Thema, nämlich die zweigleisige Behandlung chronischer Leidenszustände, hat mich die vergangenen Jahre intensiv beschäftigt und meiner Art einer strukturierten Homöopathie eine weitere Plattform der Entscheidungsfindung hinzugefügt. In der Tat gelang es mir in vielen Fällen, mit meinem Arsenal kompletter Salze, ausgewählt auf miasmatischer Basis und ergänzt durch Nosoden und eventuell weitere Satellitenmittel - einem bestimmten Zustand, seelisch wie körperlich, gewidmet -, sehr schöne Ergebnisse zu erlangen, die weit über das hinaus gingen, was mit einer beliebigen Arzneimittelwahl aus dem Fundus der Polychreste zu erreichen war. Dennoch blieb ich oft stecken auf dem halben Weg zu einer vollständigen Ausheilung. Mit der Einbindung des karzinogenen Miasmas habe ich ein Instrument gefunden, dieses Manko besser ausräumen zu können. Es ist so, als ob dessen Einprägung gewissermaßen eine Parallelexistenz zu den übrigen Miasmen darstellt und nur durch seine Einbeziehung in den Therapieverlauf eine weitgehend vollständige Bereinigung krankmachender Faktoren zu erreichen ist

Ein wahrer Luxus ist die homöopathische Arbeit insofern, als die übliche ausführliche Grundanamnese sowie die weitere Betreuung ein sorgfältiges Kennenlernen und eine fundamentale Vertrautheit mit unseren Patienten ermöglichen. Allerdings stoßen wir dabei nicht selten auf eine Fülle von Krankheitsdetails und decken erschreckend oft große Tragödien in der Biographie unserer Patienten und ihrer Familien auf. Dementsprechend kann es sehr schwer fallen, in diese Vielfalt von Informationen eine Ordnung zu bringen. Die Auflösung solcher Pathologien schreitet oft nur langsam voran, allein das Finden der geeigneten Arznei beansprucht einen Großteil der Zeit. Kontinuierliche Kontakte und jedes Mal erneut genau hinzuhören, was sich an Veränderungen ergibt, ist meist der einzig tragbare Weg, um zu guten Ergebnissen zu kommen.

Manche Homöopathie-Gurus brüsten sich prompter Lösungen fundamentaler Leiden mit zauberhaften Arzneien; der Alltag sieht jedoch anders aus. Und schon Hahnemann hat in seinen Chronischen Krankheiten darauf hingewiesen, dass die Heilung lange bestehender Krankheitserscheinungen einer respektablen Zeitdauer von mehreren Jahren bedarf. Und so ist es auch nicht einfach, derartige hochkomplexe Therapieverläufe in Krankheitsfällen, die von manigfaltigen Einflüssen bestimmt sind, in verständlicher Form didaktisch zu vermitteln, wobei der Berichterstatter allerdings über die Gnade verfügt, dass im Nachhinein manches wesentlich transparenter erscheint als in dem Moment, wo man sich erst auf die Suche nach Lösungen macht.

Sandra M., 51 Jahre alt, steht seit 1997 in meiner hausärztlichen Betreuung. Zunächst waren nur akute Infekte und kleinere Verletzungen zu behandeln, bald manifestierten sich aber auch einige chronische Krankheitsneigungen wie z. B. ein juckendes Ekzem des Gehörgangs, Fuß- und Nagelpilzerkrankungen und eine Zahnfistel.

Schließlich führten bei ihr Missempfindungen im Hals und eine belegte Stimme zur Diagnosestellung einer Knotenstruma mit mehreren kalten und einem heißen Knoten. Wie groß nun das Entartungsrisiko auch sein mochte, schon die Andeutung dessen genügte, um die Patientin von der Indikation zur baldigen Struma-Resektion zu überzeugen, denn in ihr war nun eine ausgeprägte Krebsangst aufgestiegen. Zuvor holte sie aber doch noch meinen Rat ein und ich konnte ihr verdeutlichen, dass ein derartiger Krankheitsprozess nach meiner Meinung nicht ohne den Hintergrund massiver emotionaler Spannungen denkbar sei. Wir vereinbarten zur Bereinigung ihrer Problematik eine konstitutionelle homöopathische Behandlung nach Durchführung der Operation.

Die Anamnese wurde also 2001 erhoben, die Patientin war damals 38 Jahre alt. Sie ist im pädagogischen Bereich tätig, lebt in einer harmonischen Ehe und hat drei Kinder. Ihre große Sorge galt ihrem Vater, der immer krankheitsbeladen war und seine letzten Lebensjahre an einem Blasen-Karzinom litt. Es ist vielleicht übertrieben interpretiert, wenn man darin eine Verbindung und ein wirkliches Mitleiden erkennen will, aber der Zusammenhang fiel doch auf: Jedenfalls nach ihrer eigenen Strumaresektion, kaum genesen, erkrankte sie selbst an Fieber, Rheuma und Erythema chronicum migrans der Kniekehle (ohne erinnerlichen Zeckenbiss) kurz nach dem Zeitpunkt, als ihrem Vater nach einer Blasen-Operation Herzstillstand und Reanimation widerfuhren.

Dass eine so weitreichende Sympathie mit ihrem Vater, also eine zeitgleiche Erkrankung, nicht ganz zu Unrecht vermutet werden darf, darauf weist allerdings ihre Biografie hin. Sie hing sehr an ihm und seine vielfältigen Krankheiten haben sie frühzeitig in die Rolle der Verantwortlichen gedrängt. Nicht nur sein Nierenstein-Leiden, seine Behinderung durch eine kriegsbedingte Beinamputation und seine Roemheld-Attacken schürten ihre Ängste um ihn und machten sie zu seinem Beschützer, auch innerfamiliäre Konflikte bürdeten ihr reichlich Sorgen auf. Die Ehe ihrer Eltern war nicht sehr tragfähig und zwischen ihrem Vater und ihrem Bruder gab es große Streitigkeiten; so wurde sie auch zur wichtigsten Bezugsperson für ihren Vater. Ihr Bruder war offensichtlich der Rebell in der Familie, während sie, wie sie es ausdrückte, still war und die Welt mit großen Augen betrachtete, sich pflegeleicht und auffällig unauffällig verhielt.

Diese ihre biografische Prägung forderte aber auch ihren Preis: Mit elf Jahren begannen bei ihr chronische Blasenentzündungen, mit 14 Jahren magerte sie massiv ab und sah den Grund dafür selbst in ihrer Verantwortlichkeit für ihre Familie, denn diese Anorexie machte sie vorübergehend zu deren Mittelpunkt; mit diesem Kreuz bürdete sich die Last ihrer Welt auf. Sie begann sich zurückzuziehen und ging in den folgenden Jahren auch nicht gut mit ihrem Körper um, den sie mit suchtmäßigem Rauchen und auch zu viel Alkohol nicht schonte. Ihre schulischen Leistungen waren immer gut und ihre hohe Verantwortlichkeit setzte sich in ihrem Beruf fort; sie beschreibt sich als leistungsorientiert und pflichtbewusst.

Soweit zu den prägenden Gegebenheiten ihrer Biografie. Und um die Anamnese abzurunden sei erwähnt, dass sich in der Familie neben dem Blasen-Karzinom des Vaters noch Fälle von Rheuma, Depressionen, Osteoporose und Angina pectoris finden, und dass möglicherweise beim Großvater väterlicherseits ein Magen-Karzinom vorlag.

Die Krankheitsdisposition der Patientin selbst war auf der körperlichen Seite gekennzeichnet durch die bereits erwähnten Zystitiden, ferner durch Dysmenorrhoe, Lumbalsyndrom, Neigung zu Herpes labialis, Vaginitiden nach Antibiotika, Ovarialzysten, Ekzem- und Warzen-Neigung. Es bestand eine leichte Höhenangst, vor allem aber die erwähnte Karzinophobie; und als Kind litt sie so stark an Furcht vor Dunkelheit und Einbrechern, dass sie die Füße ihres Bettes absägte, um sicher zu sein, dass sich darunter niemand verbergen konnte. Sie ist von stiller, angenehmer, freundlicher Wesensart und in ihrem Gesicht spiegelt sich immer eine gewisse Besorgtheit.

Ihr Grundcharakter bietet alle Aspekte von Phosphor: Sie ist offen, empathisch, aber auch voller Angst, etwa vor Dunkelheit und Krankheiten. Die Sykose ihrerseits ist mit einigen Elementen vertreten, vor allem der Neigung zu Warzen und zu Harnwegsinfekten. Daraus konnte ich die Indikation für Natrium phosphoricum ableiten, denn alle Natrium-Salze sind für mich Repräsentanten des sykotischen Miasmas (ergänzt durch Medorrhinum und Thuja). Allerdings ist tatsächlich Natrium phosphoricum, eines der wenigen kombinierten Arzneien, die noch einigermaßen verwertbare Schlüsselsymptome kennen, konkret vertreten in der Rubrik Vaginitis nach Antibiotika (Murphy). Die Karzinogenie hat aber auch tiefe Spuren hinterlassen, sie ist hereditär angelegt in Gestalt einiger Krebsfälle in der Familie und sie hat sich ihr über die Biographie eingeprägt, die von Unterordnung, Verdrängung und unangemessen früher Übernahme von Verantwortung gezeichnet ist, letztlich vom Verlust der Unbefangenheit einer gesunden Kindheit.

Viele ihrer Beschwerdekomplexe konnten mit Natrium phosphoricum gut erreicht werden, aber ihre Krebsangst bedurfte der Gabe von Carcinosin; und in Episoden größerer familiärer Belastung zeigten sich vegetative Störungen wie Schlaflosigkeit mit Früherwachen um 5 Uhr, Herzstolpern, Gewichtsverlust und Durchfallneigung. Hierfür erwies sich Kalium jodatum als nützliche Arznei. Dieser Entscheidung lag ihre Karzinogenie zugrunde und der Gedanke, dass alle Kali-Salze für mich die wichtigsten Repräsentanten dieses Miasmas sind. Erst zuletzt, als die Seele wieder sehr stabil war, der Schlaf und das Herz zur Ruhe gekommen waren, nebenbei auch ein prämenstruelles Brustspannen und eine chronische Erschöpfung verschwunden waren, wurde eine erneute Gabe von Natrium phosphoricum erforderlich - wegen einem anhaltenden Sodbrennen, was gleichfalls eine Keynote dieser Arznei ist.

Der geneigte Leser möge nicht glauben, dass mir diese Entscheidungen einfach zugefallen sind und in einem Zuge abgewickelt wurden; aber die vielfältigen Schachzüge widerzugeben, würde diesen Aufsatz unleserlich machen. Die Behandlung ging mit Unterbrechungen über etwa 8 Jahre, das Vorankommen war dadurch behindert, dass mir diese Arbeitsstrukturen, wie ich sie eingangs geschildert habe, erst allmählich zugänglich wurden.

Jedoch aus der Retrospektive sind sowohl die beteiligten Miasmen als auch die eingesetzten Arzneien, die nötig waren um ihre Gesundheit nachhaltig zu stabilieren, schlüssig abzuleiten (freilich unterstützten einige Symptome mehr als die hier aufgeführten die Auswahl der Arzneien). Allerdings habe ich mich lange gefragt, womit sich die Jod-Komponente rechtfertigt, bis ich auf die Kausalität von Jodum stieß: Enttäuschte Liebe (Stefanovic), nervöser Schock, Liebeskummer (Vermeulen). Und dazu kann man vermutlich auch den Mangel an Geborgenheit oder Angenommensein in der eigenen Herkunftsfamilie rechnen.

Ein Philosoph unter meinen Patienten drückte es einmal so aus: Er fand in seinem vom Streit der Eltern geprägten Haus "kein bergend‘ Nest".

Wenngleich die Indikation für Kalium iodatum nicht leicht zu finden ist, so habe ich diese Arznei schon oft mit Gewinn eingesetzt, meist bei Arrhythmien des Herzens und neuralgischen Schmerzen etwa im Zuge einer Lumboischialgie, auch bei Schilddrüsen- und Kehlkopf-Erkrankungen. Und in allen diesen Fällen war eine belastende familiäre Herkunft, unserer Patientin vergleichbar, nicht zu übersehen.

Bamberg, im Juli 2014

Veröffentlicht in der Homöopathie aktuell 3/2014

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