Hat Kent die Homöopathie beschädigt oder sie gar ins Grab gestoßen? Nach seinem Tod im Jahre 1916 verfiel die bis dahin in Amerika hochgeschätzte Heilmethode in die Bedeutungslosigkeit, und manch einer schob ihm dafür die Schuld zu. Für uns heutige Homöopathen eine der größten Persönlichkeiten nach Hahnemann, war Kent keineswegs immer unumstritten. Gerade in Deutschland hatte er seit seinem Auftreten enorme Widersacher, die seinen Einfluss vehement ablehnten, nachdem seine Botschaften Ende des 19. Jahrhunderts erstmals unseren Kontinent erreichten.
Heike Kron, Homöopathin und Psychotherapeutin, eingebunden in das Homöopathisch Therapeutische Praxis Zentrum München, hat 2014 eine Dissertation obigen Titels vorgelegt und präsentiert damit nicht nur eine Biografie unseres berühmten Vorfahren, sondern liefert mit dieser opulenten Arbeit zugleich eine spannende Entwicklungsgeschichte der Homöopathie über die 100 Jahre von 1886 bis 1986.
Drei große Werke stammen von JT Kent ab, das Repertorium, das er eigentlich zunächst für den eigenen Gebrauch verfasst hat, dann aber auf Druck seiner Schüler schließlich doch vervielfältigen ließ; seine Arzneimittellehre, die aus Mitschriften seiner Vorlesungen durch seine Schüler entstand und mit der er erstmals lebendige Arzneimittelbilder präsentierte, wo bis dahin nur nüchterne Symptomenreihen existierten; und schließlich seine Philosophy, rezseine Schriften zur Theorie der Homöopathie, die sich mit Hahnemanns Organon auseinandersetzten.
Heike Kron beschreibt zunächst Kents Weg über das Initiationserlebnis, als seine schwerkranke Ehefrau von einem erfahrenen Homöopathen kuriert wurde, sein Verschlingen aller für ihn erreichbaren homöopathischen Literatur daraufhin und seinen Werdegang als großer Lehrer an verschiedenen Orten der Vereinigten Staaten und Begründer einiger Homöopathen-Vereinigungen. Sie verfasste damit eine weitere Biografie nach Pierre Schmidt, einem Schweizer Arzt, der um 1920 im Anschluss an sein Staatsexamen eine Reise in die USA unternahm und in innigen Kontakt mit unmittelbaren Schülern Kents trat, Frederica Gladwin und Alonzo Eugene Austin, die ihm auch eine spätere und erweiterte Ausgabe seines Repertoriums überließen. Über ihn und seinen Schüler Künzli, der 1960 zusammen mit Georg von Keller das Kentsche Repertorium auf den deutschen Markt brachte, aber auch über den Schweizer Voegeli, der die Gedanken der klassischen Homöopathie aus England zurückführte, breitete sich die heute gängige Arbeitsweise wieder im deutschsprachigen Raum aus.
Zuvor gab es schon einige Veröffentlichungen vor allem seiner Arzneimittelbilder in deutschen Homöopathie-Journalen, aber auch eine heftige Abwehr seiner Person und Arbeitsweise. Denn in Deutschland hatte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die naturwissenschaftlich-kritische Richtung die Oberhand, die sich mit der Abwendung von Hahnemann, durch die Arbeit mit Tiefpotenzen und mit einer organotropen Arzneimittelwahl der Schulmedizin anbiedern wollte (damit aber Schiffbruch erlebte; nebenbei auch noch eine fatale Liaison mit dem Nationalsozialismus einging).
Dem gegenüber stand Kent, der nicht nur den Hochpotenzen zugetan war, sondern auch seine Arzneimittelwahl in erster Linie auf Psyche und Allgemeinsymptome eines Patienten abstellte: Verschreibe für den Patienten und nicht für die Erkrankung! Aber auch der Gebrauch eines Repertoriums war neu und stieß auf Widerstände. Nur wenige deutsche Homöopathen bekannten sich in diesen Jahren zum Kentschen Stil, so etwa Willy Erbe, der ein Schüler Kents war und mit dem “Erbe-Kent“ schon eine erste Übersetzung des Repertoriums vorgelegt hatte, oder Emil Schlegel aus Tübingen.
Überhaupt ist dieses Werk von Heike Kron ein „who is who“ der Homöopathie-Geschichte in dem umfassten Jahrhundert; besonders spannend die Auflistung derer, die nach dem 2. Weltkrieg das Kentsche System etablieren halfen und damit der naturwissenschaftlich-kritischen Richtung den Rücken zuwandten bis hin zu Manfred von Ungern- Sternfeld, einem er letzten Aktiven aus dieser Zeit, der mit den Spiekerooger Wochen zusammen mit Künzli die Kentschen Arzneimittelbilder vermitteln und die Repertorisation als Werkzeug etablieren half.
Eine Person möchte ich in ein besseres Licht stellen als das Werk von Frau Kron vermittelt, nachdem wir die Arbeit der naturwissenschaftlich-kritischen Richtung heute mit Skepsis sehen: Julius Mezger. Er war Oberarzt am zu seiner Zeit homöopathisch ausgerichteten Robert-Bosch-Krankenhaus in Stuttgart. Wenngleich er aus besagter Richtung kam, so hat er sich doch auch den Hochpotenzen geöffnet und die Wertschätzung von Psyche und Allgemeinsymptomen übernommen. Seine „Gesichtete Arzneimittellehre“ schätze ich sehr, da sie, frei von spekulativen Elementen, ein bodenständiges Nachschlagewerk darstellt, von dem ich gerne Gebrauch mache.
Denn tatsächlich kann man das Kentsche System auch heute kritisch sehen. So ist die über ihn eingeführte rechnerische Auswertung der Gesamtheit der Symptome, wie sie die mittlerweile zum Standard erhobene Computer-Repertorisation vollendet hat, sicher nicht der optimale Weg zum Simile, wobei man Kent zugute zu halten muss, dass er sehr wohl auch Entscheidungen über die Keynotes zu fällen wusste – gewiss der erfolgreichere Weg. Auch die hohe Wertschätzung psychischer Elemente, von Hahnemann schon so gesehen, hat in der heutigen Homöopathie eine – nach Ansicht des Rezensenten – nicht mehr seriös zu nennende Zuspitzung erfahren mit dem Gipfel einer unkritisch und schwärmerisch gehandhabten Signaturen-Lehre. Vithoulkas, einer der von Heike Kron zuletzt erwähnten Granden, hat hierzu wesentliche Anstöße gegeben, wenngleich er sich später von dieser Entwicklung distanziert hat. Aber Kent hat ja Psyche und Allgemeinsymptome gewürdigt, was heutigen Homöopathen gelegentlich aus dem Blickwinkel geraten ist.
Schließlich ist die Gestaltung eines Repertoriums nicht unkritisch zu sehen, denn immerhin gilt es dabei, die Einzelsymptome, etwa aus dem Prüfungsbild, in das „Prokrustesbett der Rubriken zu zwingen“ (Will Klunker, 1982). Dass man hierbei unterschiedlich vorgehen kann, darüber klärt uns Heike Kron auf mit Hinweisen auf die differierenden Strukturen verschiedener Repertorien; wo also Bönninghausen die Modalitäten würdigt, so setzt Kent mehr auf Lokalsymptome.
Nachdem diese 258 Seiten umfassende Berichterstattung gerade um die Zeit endet, wo ich mich in die Homöopathie einzuarbeiten begann, war dies Werk für mich spannend bis zur letzten Zeile, denn es gab die Entwicklung wider – nach sorgfältigster Recherche und einem umfassenden Quellenstudium -, die die Homöopathie in den vorangehenden Jahrzehnten genommen hatte. Was sich danach tat und unsere Gegenwart prägt, dies zu beschreiben und zu beurteilen, ist Sache künftiger Generationen.
Die Dissertation ist entweder über das Internet als PDF-Datei einzusehen und auszudrucken (http://edoc.ub.uni-muenchen.de/17698/1/Kron_Heike.pdf; ich habe mir den dicken Stapel Papier binden lassen: ca. 17 €) oder aber, eleganter und kompakter, über On-demand-Druck abzurufen (www.online-druck.biz/shop/buchhandlung/rezeptionsgeschichte-james-tyler-kents_888.: 39,90 €); eine Kurzfassung findet sich in der ZKH 1/2015. Eine größere Auflage und eine weitere Verbreitung, vor allem auch als wichtiger Beitrag zur Geschichtsschreibung für unsere Bibliotheken, wäre dem Werk dringend zu wünschen. Es fördert erheblich das Verständnis dafür, warum wir Homöopathie in der heute üblichen Art und Weise ausüben.
Übrigens: Kent war es nicht, der die Homöopathie in Amerika zu Fall brachte! Ein neues Gesetz räumte damals mit mangelhaften medizinischen Ausbildungsstätten auf und führte zum Schließen der Mehrzahl der reichlich vorhandenen homöopathischen Kliniken, eine schlechte Ausübung der Methode tat ein Übriges, und vielleicht kam auch die Zeitenwende mit der Einführung chemisch definierter neuer Medikamente wie Aspirin oder erste Antibiotika gerade gelegen.
Bamberg, im Juni 2015
E. Trebin
Veröffentlicht in der Allgemeinen Homöopathischen Zeitung 2/2016
Mit freundlicher Genehmigung des Haug-Verlags