"Bei den Geisteskrankheiten muss man sich jedoch merken, dass deren Geistes- und Gemütssymptome nicht als echte therapeutische Indikationen verwertbar sind, da sie hier pathognomonische Symptome darstellen. Hingegen bilden auffallende, sonderliche, seltene Symptome, welche nicht zur diagnostizierten Geisteskrankheit gehören, wertvolle und nützliche Elemente auf der Suche nach dem passenden Heilmittel." Pierre Schmidt [4]
Zur Behandlung chronischer Leiden eignen sich nach Auffassung erfahrener Homöopathen aus früherer und späterer Ära vor allem die großen mineralischen Polychreste bzw. die davon abgeleiteten Salze. Aber alles Bemühen, mit diesen konstitutionell gedachten Arzneien weiter zu kommen, kann scheitern, wenn zum Ausbruch der Krankheit wichtige biografische Lebenserfahrungen oder Traumatisierungen beigetragen haben. Dadurch entstehen Blockaden, die nur dann aufgehoben werden, wenn der Knoten mit Arzneien gelöst wird, die darauf eine spezifische Antwort geben.
Jedoch nicht selten ist dem Patienten das psychische Trauma gar nicht in Erinnerung bzw. durch Verdrängung beiseite geschoben. Und wenn doch ein Trauma dem Homöopathen mitgeteilt wird, so kann er daraus immer noch nicht sicher auf die zu wählende Arznei schließen. Zur Auswahl derlei psychotroper Arzneien gehört nicht nur das Wissen um die Kausalität, sondern auch um deren Auswirkung auf Stimmung, Verhalten oder körperliches Befinden. Ein so genanntes komplettes Symptom, das sowohl Ursache als auch Folgeerscheinungen beschreibt, wäre die ideale Voraussetzung für eine treffende Arzneimittelwahl.
Erstaunlicherweise gibt es auch Krankheitsfälle, bei denen speziell und manchmal ausschließlich das körperliche Symptom den Hinweis auf die Traumatisierung und die passende Arznei gibt. So bin ich als Homöopath immer sehr dankbar, wenn der Körper eine präzise und objektiv fassbare Symptomatik bereitstellt. In diesem Punkte nehme ich Gegenposition ein zu manchen homöopathischen Schulen der Gegenwart, die nach meiner Meinung im Übermaß in der Seele suchen und den Wert körperlicher Symptome vernachlässigen oder, wie etwa die Sehgal-Methode, völlig verneinen. Psychosomatik ist seit Anbeginn die Domäne der Homöopathie, aber idealerweise nicht als Einbahnstraße zu sehen, sondern unter Wertschätzung psychischer wie körperlicher Elemente in gleichem Maße.
Eine ältere Dame von 86 Jahren beklagte einen lästigen Steißbeinschmerz. Zu ihrer Vorgeschichte ist zu sagen, dass sie früher unter einer großen Angsterkrankung litt und vor vielen Jahren ein Kolon-Karzinom hatte. Es gab also Grund zur Sorge, dass ein Rezidiv oder eine Metastasierung des Karzinoms Ursache der Schmerzen sein könnte. Entsprechende Untersuchungen verliefen negativ und der Versuch einer konstitutionellen Therapie half auch nicht weiter. Schließlich präzisierte sie ihre Aussage dahingehend, dass die Kreuzbeinschmerzen jede Nacht auftreten würden und sie um 2.30 Uhr aus dem Schlafe wecken würden. Ein Blick in das Repertorium von Murphy [6] erbrachte unter Steißbeinschmerzen nachts unter anderem den Hinweis auf Staphisagria. Da kam mir in Erinnerung, dass besagte Dame einige Wochen zuvor von ihrer Schwester mit heftigen und unberechtigten Vorwürfen attackiert worden war. Sie konnte sich darüber wochenlang nicht beruhigen. Nun verweist die Rubrik im Synthetischen Repertorium [1] Zorn mit Entrüstung vierwertig auf Staphisagria. In C200 gegeben verschwanden die Steißbeinschmerzen in kurzer Zeit. Interessanterweise findet sich im Murphy noch die Unterrubrik Steißbeinschmerzen nachts, 1.00 Uhr und sie enthält nur Staphisagria; in diesem Fall hatten wir keine Übereinstimmung mit genau dieser Zeitangabe.
Den folgenden Fall, in dem ebenfalls ein körperliches Symptom auf eine seelische Krise verwies, habe ich bereits an anderer Stelle veröffentlicht [7]. Eine Patientin von 30 Jahren kam zu mir wegen einer ausgedehnten Neurodermitis. Nach der Anamnese gab ich ihr mit guter Überzeugung Natrium sulfuricum 6.LM, worauf sich die Haut leicht, aber nur vorübergehend beruhigte. Ergänzend gegeben wurde nun Medorrhinum C200; auch damit kam es nur kurz zu einer Verbesserung, danach aber zu einer weiteren Verschlimmerung. Sie beschrieb ein untergründiges Krabbeln wie von Ameisen unter der Haut, aber auch auf der Zunge. Eine weitere Gabe Natrium sulfuricum C200 half gar nicht, das Jucken und Brennen und Krabbeln schritt fort und auch im Mundraum brannte nun alles - nach jeder Speise, sogar nach der Einnahme von Globuli. Im Murphy fand ich die Rubrik Zunge, brennender Schmerz, während des Essens. Hier war nur Ignatia und Natrium muriaticum angeführt. Nun hatte ich mit guter Überzeugung ein Natrium-Salz gegeben, war aber damit nicht weitergekommen. So richtete sich mein Interesse auf Ignatia und ich fragte sie, ob sie irgendeinem Kummer ausgesetzt sei. Sie verneinte. Nachdem man aber nun weiß, dass Ignatia-Patienten mit ihrem Verdruss schlecht herausrücken, folgte ich doch meiner Ahnung und gab ihr Ignatia C200. Ein Anruf am nächsten Tag bezeugte eine Besserung und nach drei Wochen war das Ekzem völlig ausgeheilt. Nun konfrontierte ich sie angesichts dieser Lösung erneut mit der Frage nach irgendwelchen Sorgen und sie räumte schüchtern ein, dass sie an ihrem neuen Arbeitsplatz mit schwierigen Kolleginnen zu tun hätte.
Fr. K., damals 46 Jahre alt, kam im Sommer 2001 mit akut aufgetretenen Zahnschmerzen im rechten Oberkiefer. Man mochte eine Zahnwurzelentzündung vermuten, denn Kauen und Zusammenpressen der Zähne verursachten Schmerzen, die plötzlich eingetreten waren, ohne Vorläufer. Nun fiel der Beginn dieser Beschwerden zusammen mit einem Schock, den sie erlitten hatte, als auf einer Radtour ihre Tochter vom Fahrrad stürzte und sich eine Platzwunde zugezogen hatte. Im Synthetischen Repertorium gibt es die Rubrik Beschwerden durch Anblick eines Unfalls, hier dominieren Aconit und Opium jeweils im vierten Grad, und im Repertorium von Kent [5] fand ich Zahnschmerz in gesunden Zähnen, worunter ebenfalls Aconit dreiwertig vermerkt ist. In C200 befreite es die Patientin in kürzester Zeit von den Zahnschmerzen.
Ein Mann von heute 49 Jahren litt nicht nur unter allergischem Asthma bronchiale seit dem 12. Lebensjahr, er beklagte auch ein langjähriges Globusgefühl und eine erhebliche Depressionsneigung. Besonders belastend waren aber seit der Kindheit bestehende paroxysmale supaventikuläre Tachykardien mit Pulsfrequenzen bis zu 180/min. Zwei Umstände drückten ihn nieder, das eine war eine unbefriedigende berufliche Tätigkeit, die ihm keine Entfaltung seines wirklichen Potentials erlaubte, das andere waren unerfreuliche Jugenderlebnisse, da sein Vater alkoholkrank war und als Choleriker nicht nur die Mutter schlug, sondern auch bei ihm die pure Angst vor Tätlichkeiten erzeugte. Dieser Vater hatte seinerseits schlimme Lebenserfahrungen gemacht, so starb seine Mutter während des Krieges, und auf der Flucht von Ostpreußen kam nicht nur seine Oma ums Leben, sondern wurde auch sein Vater erschossen. Er war selbst erst 12 Jahre alt. Die Behandlung meines Patienten führte bald hin zu einem Goldsalz, zunächst zu Aurum sulfuratum. Eine Aussage aber, dass die Herzrhythmusstörungen durch Liegen auf der linken Seite ausgelöst würden, verwies auf Natrium muriaticum, und so setzte ich die Behandlung fort mit Aurum muriaticum natronatum. Dies stabilisierte ihn in jeder Hinsicht, allerdings traten trotz dieser Behandlung mit einer Arznei, die durchaus schweren depressiven Zuständen gerecht werden kann, erheblich seelische Verstimmungen auf, verbunden mit einem Globusgefühl. Dies veranlasste mich zur Zwischengabe von Ignatia unter Berücksichtigung seiner frustrierenden beruflichen Lage, was ihm wieder sehr gut auf die Beine half. Vor kurzem kam er aber in meine Sprechstunde wegen eines Schwindels, der sich in Seitenlage verschlimmerte und in Rückenlage besserte. Er hatte ein Gefühl wie von Fieber, wie vergiftet zu sein. Die körperliche Untersuchung ergab keine neuen Erkenntnisse, aber die Auswertung nach dem Repertorium von Kent führte zweimal zu Stramonium, nämlich unter der Rubrik Schwindel, Seitenlage verschlimmert und Schwindel, Rückenlage bessert. Nun ist Stramonium eine Arznei nicht nur für gewalttätige Amokläufer, sondern auch für Personen, die lebensbedrohlichen Situationen oder Gewalt ausgesetzt waren. Dies erinnerte mich an die Schilderungen von Angst und Schrecken, unter denen seine Jugend litt, und er erhielt Stramonium C200 mit gutem Erfolg.
Durchaus vergleichbar war die Situation eines Kleinkindes, heute 4 Jahre alt, das von Geburt an von unruhigem Schlaf geprägt war, 6 bis 8 mal pro Nacht weinend erwachte, so als hätte es einen schweren Traum gehabt. Nächtliche Panikattacken bei Kindern, die dann völlig verstört agieren und kaum zu beruhigen sind, sprechen gewöhnlich sehr gut auf Stramonium an. In diesem Fall aber lag sogar eine schlüssige Erklärung für diese Störung vor: Das Kind entstammte einer Zwillingsgeburt; die Mutter wurde fünf Wochen vor Entbindungstermin von einem unguten Gefühl übermannt, dass mit ihrer Leibesfrucht etwas nicht stimmen würde. Sie begab sich in die Klinik, wo man sie zunächst beruhigte, sie aber beharrte auf weiteren eingehenden Untersuchungen und schließlich entdeckte man doch per Ultraschall eine Minderversorgung des einen Zwillings. Dies führte sogleich zu einer Sectio und zur Erkenntnis, dass dieses Kind deutlich unterversorgt war und sich in einer lebensbedrohlichen Lage befand; es wog nur 1990 g und musste anfangs beatmet werden. Diese Grenzsituation war offensichtlich der Anlass, in unserem Jungen eine Stramonium-Pathologie hervorzurufen. Jedenfalls reagierte er prompt auf eine Gabe Stramonium C200 und fand zu einem ruhigen Schlaf. Ein Jahr später fiel er durch ein zorniges Verhalten auf, aus dem ihm eine weitere Gabe Stramonium C200 wieder heraus half.
Viel Kopfzerbrechen bereitete mir eine heute 48-jährige Patientin, Mutter von drei Kindern. Seit zehn Jahren betreue ich sie, anfangs kam sie sporadisch wegen HNO-Infekten, die ich meistens mit Akut-Arzneien unter Kontrolle brachte. Es bot sich keine Möglichkeit zu einer biographischen Anamnese. Mitte 2006 sprach sie aber erstmals von einer depressiven Stimmungslage, für die sich kein auslösendes Element finden ließ. Ihre Mutter und ein Bruder seien davon gleichfalls betroffen. Mit einem Goldsalz, das ich versuchte aus wenigen Informationen abzuleiten, konnte ihr rasch geholfen werden, die Depression verzog sich. Ein Jahr später kam es jedoch zu einem massiven Rückfall und im Januar 2008 hatten wir endlich Zeit für die lang überfällige Anamnese. Als auslösend für ihren psychischen Einbruch sah sie einen Besuch ihrer Eltern. Mit ihrem Vater hätte sie Konflikte. Ihre ganze Jugend über habe sie unter seiner Dominanz gelitten und vor allem unter dem Leistungsanspruch, den er vor allem ihr gegenüber erhob. Weitere Informationen zur Erklärung und Einordnung ihrer psychischen Lage konnte ich ihr nicht abgewinnen. Ich fand aber auch keine Hilfe für sie, die Depression verschärfte sich, sie berichtete von regelmäßigen Weinkrämpfen, zog sich nicht nur von der Welt, sondern auch von ihrer Familie zurück, empfand sich als Belastung für die Familie, suchte Ruhe und fand sie auch in Form einer Ostseekur. Dort regenerierte sie sich recht ordentlich durch die Einsamkeit, aber auch durch die psychologische Betreuung. So ging es nun auf und ab, meine konstutionell gedachten Arzneien wollten nicht greifen. Mit ihrem Psychotherapeuten überwarf sie sich, weil sie ihm Desinteresse an ihrer Person unterstellte, einer Freundin verwehrte sie den Zutritt, weil sie zu sehr ihre eigenen Probleme vortrug, mit ihrem Ehemann überwarf sie sich, weil sie ihm mangelnde Unterstützung vorhielt, und mit der Lehrerin eines ihrer Söhne kam Ärger auf, weil sie ihn nicht richtig gefördert sah. In diesem Zusammenhang entwickelte sie Bauchkrämpfe und Magenschmerzen und verlor schließlich jeglichen Appetit. Natürlich griff ich jedes Symptom auf und schlug im Repertorium nach, weil ich auf den zündenden Funken hoffte. Unter der Rubrik im Kent Magen, Abneigung gegen alles fand ich neben einigen Arzneien, die bei ihrer Behandlung bereits Berücksichtigung gefunden hatten, auch Hyoscyamus. Mit dieser Arznei, gegeben in C200, landete ich nun wirklich einen guten Treffer. Sie wirkte bei der folgenden Konsultation wesentlich enspannter, Übelkeit und Weinerlichkeit hatten nachgelassen, der Schlaf war wieder gut und die Träume, die zuvor oft von vergangenen, unerfreulichen Begegnungen gehandelt hatten, wurden wieder angenehmer. Auch bei dieser Patientin führte bei einer Depression mit schwer definierbarer Stimmungslage und unsicherer Kausalität ein körperliches Symptom zu einem entscheidenden Behandlungsschritt. Hyoscyamus gilt als eine Arznei für Fälle enttäuscher Liebe. Möglicherweise steckte eine unglückliche Affäre hinter all dem, zur Sprache kam dies allerdings nicht.
Anders bei einer weiteren Patientin, wo eine enttäuschend verlaufende Liebelei, im Alter von 47 Jahren, den typischen Hyoscyamus-Husten hervorrief, nämlich charakterisiert durch ein Kitzeln in der Kehle beim Niederlegen.
Den jungen Mann, jetzt 21 Jahre alt, betreute ich schon sehr lange wegen schweren Depressionen mit Suizid-Drohungen. Viele Monate verbrachte er schon in psychiatrischen Kliniken, ohne dass ihm wirklich geholfen werden konnte. Vor allem sind es starke Ängste verschiedener Art, die seinen Zustand prägen. Irgendwann beklagte er ein auffälliges Aufwärtsrollen der Augen, vor allem in Kontakt mit Menschen. Unter dieser Rubrik findet sich Veratrum album. In C200 bereinigte es dieses körperliche Phänomen. Nicht beseitigt werden konnte eine anhaltende Übelkeit und Brechneigung, ebenfalls bei Kontakt mit Menschen. Erst als man sich bei einem weiteren Klinikaufenthalt entschloss, seine Psychopharmaka drastisch zu reduzieren, verschwand diese Übelkeit, die offenbar duch die Arzneien induziert war und um deren Bereinigung sich die Homöopathie vergeblich bemühte. Auch die Stimmung gewann kräftigen Aufschwung nach Korrektur seiner allopathischen Medikation. Er ergriff neue Initiativen, kehrte zu seiner Schulausbildung zurück. Er entwickelte geradezu einen missionarischen Eifer, empörte sich über alle Ungerechtigkeiten in der Welt, debattierte nach jeder Nachrichtensendung anhaltend mit seinen Eltern, spekulierte darauf, in die Politik zu gehen, und befürwortete die Todesstrafe für alle Verbrecher. Von dem Gedanken an einen Suizid mochte er sich noch nicht ganz distanzieren, hatte aber den Aspekt des Depressiven abgelegt. Lediglich starke Einschlafprobleme beeinträchtigten ihn noch erheblich. Veratrum album ist ein für mich schwer zu begreifendes Arzneimittel, manche Referenten verglichen den Zustand eines Veratum-album-Patienten mit dem missionarischen Auftreten mancher Redner im speakers corner von Londons Hyde park, die von einer Leiter herab ihre Botschaften verkünden. Diese Haltung schien mir auch bei meinem Patienten vorzuliegen, der sich über alles erregte und sich auch über alle stellte (die Leiter!), in dem er andeutete, er fühle sich für diese Welt zu schade. Und nachdem im Synthetischen Repertorium die Rubrik Entrüstung, Empörung gleichfalls Veratrum album aufwies, gab ich ihm erneut diese Arznei mit dem Erfolg, dass sich sein Schlaf wesentlich besserte. Nicht gelöst ist in diesem Falle allerdings die Wahl der konstitutionellen Arznei, die nun unbedingt die Behandlung fortführen muss. Nachdem aber Veratrum album möglicherweise die psychische Verfassung entscheidend gebessert hat, sollten die Chancen auf eine erfolgreiche Weiterbehandlung mit einer konstitutionellen Arznei steigen.
Eine weitere Arznei aus dem Reigen der großen psychotropen Medikamente erwies sich als wirkungsvoll bei einer jungen Frau von 20 Jahren. Sie kam wegen Panikattacken in Behandlung, und zum Hintergrund war zu erfahren, dass sie seit Kindheit sehr betroffen war vom Alkoholismus ihres Vater. Sie engagierte sich sehr für ihn, erlebte naturgemäß aber immer wieder Enttäuschungen und wandte sich schließlich von ihm ab. Eines nachts wurde ich zu ihr gerufen, nachdem sie erneut in eine Panikattacke verfallen war. Ich fand sie in einer Art Schreckstarre vor, kaum anzusprechen, und behalf mir zunächst mit einer Tablette Tavor, was sie schließlich auch in einen guten Schlaf brachte. Bei der Rückschau ergab sich folgendes Bild: Sie war an jenem Abend mit ihrer Familie zu einer Hochzeit eingeladen und traf dort auch einen Verwandten, den sie, geschult aus den Erfahrungen mit ihrem Vater, als Alkoholiker identifizierte, obwohl er abstinent lebte und auch an diesem Abend keinen Alkohol konsumierte. Aber allein die Konfrontation mit dieser Krankheit löste bei ihr tiefen Schrecken und Panik aus. Nun findet sich im Synthetischen Repertorium die Rubrik Furcht, nach einem Schreck, wenn die Furcht vor dem Schreck zurückbleibt, oder anders ausgedrückt in Der Neue Clark [2]: Nach dem Schreck bleibt die Furcht durch den Schreck bestehen (mit Verweis auf Constantin Hering) - eine umständliche Formulierung, die ich so interpretiere, dass allein die Erinnerung an ein schreckauslösendes Erlebnis erneut Panik verursachen kann. Und in dieser Rubrik und unter dieser Beschreibung findet sich Opium. Seit ich ihr Opium gab, bisher zweimal in C200, kam es zu keinem Rückfall mehr, auch nicht nach einer erneuten Begegnung mit ihrem Vater.
Ein weiteres großes Arzneimittel und die letzte Arznei dieser Aufzeichung: Eine heute knapp 50-jährige Frau klagte vor knapp sechs Jahren über Panikattacken mit Herzklopfen, Schwindel, Todesangst, innere Unruhe, Schweißausbrüche, Zittern und Diarrhoe. Auf die Frage nach einer möglichen Ursache gab sie preis, dass ihre Mutter in ihrer Gegenwart kollabiert sei wegen schwerer Herzrhythmusstörungen und dass der Notarzt gerufen werden musste. Die Patientin ist grundlegend sehr ängstlich und entspricht in vielerlei Hinsicht unserer Vorstellung von Phosphor. In diesem Fall allerdings war eine spezifische Arznei angesagt und ergab sich aus der Repertorisation der Rubriken im Murphy Zittern vor Angst, Durchfall nach Schreck und Durchfall nach Erregung, die jeweils Gelsemium im dritten Grad enthalten. Die Arznei war erfolgreich.
Es war mir wichtig, darauf hinzuweisen, dass bei seelischen Krisen nicht nur die psychische Verfassung oder die auslösende Kausalität auf eine Arznei verweisen, sondern auch die Auswirkungen auf das physische Befinden wahlentscheidend sein können. Gerne möchte ich auch die §§ 220 ff des Organon 6. Auflage [3] in Erinnerung bringen, in denen Hahnemann dringend nahelegt, nach erfolgreichem Einsatz einer psychotropen Arznei die Behandlung baldmöglichst fortzusetzen mit einer antipsorischen Medikation, man würde heute ausdrücken: mit einer antimiasmatischen Arznei, die den konstitutionellen Gegebenheiten gerecht wird. Und meine Auffassung ist, dass unsere Materia medica, wie sie schon unsere Vorfahren vor 80 bis 100 Jahren zur Verfügung hatten, eigentlich alle Arzneien, die wir brauchen, zur Verfügung stellt, man muss sie nur finden können. Wenngleich ich all jenen, die mit neueren Medikamenten erfolgreich arbeiten, den Respekt nicht versagen möchte, so bleibt doch meine Skepsis bestehen, ob wir die heute vorgestellten exotischen Milcharzneien, Spinnenmittel oder Lanthaniden wirklich brauchen oder gar die potenzierte Adlerfeder, wie sie mir jüngst ein Patient vorstellte.
Auch möchte ich betonen, dass die hier behandelten Störungen einseitige Krankheiten darstellen, Zustände also, die Akutmittel erfordern, zu deren Auswahl ein prägnantes Symptom führen kann. Derlei Symptome im Sinne des §153 Organon 6. Auflage fehlen aber häufig in der konstitutionellen Therapie bzw. treten in den Hintergrund und machen Platz für weitergreifende Kriterien inklusive miasmatischer Zuordnungen.
Bamberg, im Dezember 2009