Der liebe Gott hat uns mit der Homöopathie ein großes Geschenk gemacht, uns aber gleichzeitig viel Mühe, Fleiß und Geduld auferlegt, wenn wir sie erfolgreich nutzen wollen. Nach langer Ausübung der Methode finde ich heute das Heil meistens in kombinierten Arzneien, die in der Gegenwart relativ wenig in Gebrauch sind. Es sind dies komplette Salze, zu denen ich über das Zusammenfügen ihrer einzelnen Bestandteile finde. Als Beispiel sei hier Calcium phosphoricum genannt, das man sich erarbeiten kann aus einem hohen Vorkommen von Calcium carbonicum und Phosphor bzw. Acidum phosphoricum in der Symptomenauswertung, das als eigenständige Arznei dabei aber eher unterrepräsentiert ist. Und bei der Suche nach diesen Arzneien helfen mir miasmatische Überlegungen, die ein Fundament für meine Entscheidung bedeuten.
Nicht wenige meiner Patienten offenbaren bei der Anamnese eine Vielzahl konstitutioneller Schwächen, haben darüber hinaus schwerwiegende biographische Erfahrungen und Traumatisierungen erlebt und können auf erhebliche genetische Belastungen in der Familienanamnese verweisen. So kommt es nicht selten vor, dass die Repertorisation, d. h. die strukturierte Auswertung ihrer Symptomendetails, ein diffuses Potpourrie ergibt, aus dem heraus zunächst überhaupt keine sichere Arzneimittelwahl zu treffen ist. Und so muss man die Behandlung eben dort beginnen, wo man glaubt, den Hebel ansetzen zu können, muss man bereit sein, je nach Verlauf die Arzneimittelwahl abzuändern, um schließlich mit Geduld und Glück zu einer nachhaltigen Hilfe für den Patienten zu kommen. Meist gelingt dies auch, setzt aber voraus, dass der Patient den Weg mitgeht und nicht gleich die Flinte ins Korn wirft, wenn die ersten Ansätze versagen sollten.
So ging es auch mit einer Patientin, die heute 52 Jahre alt ist und vor gut sechs Jahren in meine Behandlung kam. Sie ist in einem anspruchsvollen akademischen Beruf tätig und berichtete bei der Anamnese über ihre psychische Not, die schon 18 Jahre lang durch viele Ängste gekennzeichnet sei: Angst vor unheilbaren Krankheiten, vor Krebs oder vor dem Tod. Nicht nur untertags sei die Angst ihr ständiger Begleiter, sie suche sie auch im Schlaf auf. Seit einem halben Jahr schrecke sie nachts hoch, leide unter Luftnot und glaube, ihre letzte Stunde sei gekommen. Dabei rase das Herz und ihr erscheinen die Träume wie wahr, nachdem sie erwacht ist.
An körperlichen Erscheinungen sind wiederholt eitrige, bis fast zur Abszessbildung gehende Tonsillitiden zu vermerken sowie eine ausgeprägte Gesichtsneuralgie, die offenbar vom linken Kiefergelenk ausgeht. Hinzu kommen noch rechtsseitige Schulterschmerzen, Kopfschmerzen bei Wetterwechsel, ein leichtes Gebärmuttermyom und eine Anfälligkeit für Blasenentzündungen als Folge kalter Füße.
Sie ist das einzige Kind ihrer Eltern und ihre Jugend war geprägt von viel Angst. Einerseits war ihre Mutter aufgrund ihrer eigenen Biographie extrem labil, schüttete ihr Herz der Tochter aus und machte sie zu ihrer wichtigsten Vertrauensperson, drohte andererseits immer wieder mit Suizid, wodurch meine Patientin in eine sehr verantwortungsvolle Rolle für ihre Mutter gedrängt wurde. Anderseits war der Vater sehr dominant, achtete streng auf gute Schulleistungen, war auf Kontrolle bedacht (und fürchtete Einflüsse der Studentenrevolte von 1968 auf seine Tochter), dirigierte sie auch in ihren persönlichen Beziehungen und lenkte ihren beruflichen Werdegang.
Eine erste Liebe mit 18 Jahren galt einem Priester, wurde aber von den Eltern rasch vereitelt - was man ihnen aber nicht verdenken kann. Auf Druck der Eltern kam auch ihre erste Ehe zustande, die jedoch zum Scheitern verurteilt war. Und schließlich schürte der plötzliche Herztod des Vaters ihre Ängste noch weiter.
Ihre körperliche Konstitution beschrieb sie als eher verfroren und wärmebedürftig, aber mit der Tendenz, die pralle Sonne zu vermeiden. Sie ist von unauffälligem körperlichen Habitus, in ihrem Auftreten fein, höflich und liebenswürdig und in ihren Ansprüchen an den Therapeuten durchaus bescheiden und geduldig. Ihr Selbstvertrauen ist nicht so groß und später kamen im Verlauf der Behandlung, als ihr ein anspruchsvoller Posten angeboten wurde, Zeichen von Scheu und mangelndem Selbstbewusstsein zu Tage.
Ich will hier keine tabellarische Symptomauswertung vorstellen, wohl aber den leitenden Symptomen die wichtigsten Arzneien gegenüberstellen:
Der großen Krankheitsfurcht entsprechen Arsen und Phosphor, aber auch Carcinosin. Unter der Rubrik des Traumes vom bevorstehenden Tod finden sich Kalium carbonicum und Silicea. Nach dem Erwachen wahr erscheinende Träume sind Natrium carbonicum und Natrium muriaticum zuzuschreiben ebenso wie die Liebe zu einer unerreichbaren Person (in Gestalt des Priesters). Die eitrige Tonsillitis ist von mehreren Arzneien abgedeckt, aber auch hier denkt man gerne an Silicea ebenso wie bei der Krankheitsanfälligkeit durch Abkühlung der Füße. Wiederkehrende Blasenentzündungen sind sykotisch, hier gebe ich gerne Arzneien wie Medorrhinum, Thuja ebenso wie alle Natrium-Salze. Die unangemessene Belastung mit Verantwortung bei jungen Menschen lenkt unser Interesse auf Carcinosin. Und schließlich ihre Wesensart: sie ließe sich durchaus auch mit Silicea oder Phosphor in Übereinstimmung bringen. Schmerzen im Bereich des linken Kiefergelenkes konnte ich bisher öfter mit Thuja bereinigen.
Ein vorbehandelnder Kollege hatte schon Carcinosin, Medorrhinum und Arsenicum album gegeben und hatte damit auch zeitweise Erfolg. Für mich bot sich nun nach der Neuaufnahme des Falles ein buntes Bild, aber dennoch kein uferloses Angebot. Ich ließ mich zunächst leiten von ihrer Biographie, in der väterliche Dominanz und frühe Verantwortungsübernahme für die Mutter, was man auch bei Parenterifizierung nennt, vorherrschten. Die leitenden Arzneien sind für mich hier Carcinosin und die korrespondierenden Kalium-Salze, und so wählte ich zunächst Kalium phosphoricum aus, das ich im Wechsel mit Carcinosin gab.
Der Beginn war zunächst erfreulich, aber der Fortschritt stagnierte bald und ich musste weiter suchen. Ich probierte noch andere Kali-Salze aus wie Kalium silicicum und Kalium arsenicosum (neben anderen Arzneien, die ich hier, um nicht unnötige Verwirrung zu stiften, gar nicht erwähne). Die Suche setzte sich über längere Zeit fort, während dessen sich teilweise Erfolge einstellten, anderseits wieder Abstürze in ihr ursprüngliches Leiden eintraten.
Ich musste schließlich einsehen, dass der ursprüngliche Ansatz und der Heilungsversuch über die Carcinosin-Problematik nicht weiterführen würde und wandte mich dem anderen Miasma zu, das sich anbot, nämlich der Sykose. Sie manifestierte hier sich in der Anfälligkeit für Blasenentzündungen und auch - nach meiner eigenen Arbeitsstruktur - dem Hervortreten von Eigenschaften, die man den Natrium-Salzen zuschreibt, allen voran dem Natrium muriaticum - auch die nach dem Erwachen wahr erscheinenden Träume gehören zu dessen Arzneimittelbild.
Nun sah ich aber gute Gründe für eine kombinierte Arznei, erzielte zeitweise eine angenehme Stabilisierung mit Natrium phosphoricum, um schließlich zu Natrium silicicum zu kommen. Und ab diesem Zeitpunkt hatte die Homöopathie Oberhand über ihre Probleme. Sie hatte keine Infekte mehr, der Gesichtsschmerz verschwand vollständig, ihre Ängste ließen sie in Ruhe und ihr Nachtschlaf war untadelig. Und dieser Zustand währt nun schon etliche Monate, das Mittel konnte einige Male wiederholt werden in Einzelgaben von C200, um jedes Mal prompt eine schöne Wirkung zu erzielen.
Veröffentlicht in der Homöopathie aktuell 3/2009