Jakob war gerade drei Jahre alt, als er in meine Behandlung kam. Er litt an einer Neurodermitis, die ihn schon im Alter von drei Monaten mit intensivem Juckreiz quälte, war sogar vorübergehend in einer Spezialklinik für Hauterkrankungen untergebracht. Die Haut war aber ruhig zum Zeitpunkt unseres ersten Kontakts, das Ekzem flammte nur bei akuten Erkrankungen auf. Die aktuelle Beschwerde war ein Husten, vor allem nachts, der ihn weinend zum Erwachen brachte gegen 2 bis 3 Uhr. Zeitgleich bestand eine Diarrhoe, wässrig, und von jedem Trinken ausgelöst. Ich weiß gar nicht mehr, welche Intuition mich leitete, ihm Arsenum sulfuratum flavum C200 zu geben; jedenfalls legte sich der Husten, und das Ekzem flammte lediglich noch einmal kurz auf. Bei der nächsten Konsultation allerdings, drei Monate später, zeichnete ihn eine ausgeprägte Konjunktivitis. Eine zweite Dosis der gleichen Arznei führte nicht entscheidend weiter, Mercurius sulfuricus aber, wenige Tage danach gegeben, ließ seine Augenentzündung ausheilen.
Ein Jahr darauf berichteten seine Eltern von einer Trichotillomanie, also der Neigung, sich die Haare auszureißen. Quält sich selbst, so heißt eine Rubrik im Synthetischen Repertorium von Barthel und Klunker; sie enthält vor allem den Hinweis auf Arsen. Also erhielt er erneut Arsenum sulfuratum flavum. Die Trichotillomanie legte sich, aber ein halbes Jahr später hieß es, jetzt beißt er seine Nägel ab und kaut Löcher in Kleidungsstücke; ferner wurde eine Röschenflechte (Pityriasis rosea) beobachtet und bestanden anhaltende Hörstörungen infolge eines chronischen Tubenkatarrhs.
An einer Indikation für Arsen hatte ich keinen Zweifel, da aber zwischenzeitlich Warzen kamen und gingen, sah ich Hinweise auf das Wirken der Sykose und wechselte zu Natrium arsenicosum (da ich alle Natrium-Salze diesem Miasma zuordne). So recht stabilisierte sich die Lage nicht, die chronische Beeinträchtigung des Gehörs blieb bestehen, ein hypermotorisches Verhalten manifestierte sich zunehmend, die Neigung, Löcher in seine Kleidung zu beißen, bestand fort und gewisse Ängste in Menschenmengen traten verstärkt zu Tage. Weitere Gaben von Natrium arsenicosum halfen nicht wirklich, die Ohren blieben ein Problem und die Trichotillomanie meldete sich auch wieder zurück.
Im Jahr 2011, als der Junge bereits neun Jahre alt war, verschlechterte sich seine Konzentration, kam es zu einem schulischen Leistungsabfall, wurde er vergesslich und entwickelte er starke nächtliche Wachstumsschmerzen. Nebenbei ärgerte er seine Eltern mit streitsüchtigem Gehabe. In diesem Jahr entdeckte eine meiner Schülerinnen im Angebot der Firma Remedia in Eisenstadt/Kärnten die Arznei Mercurius arsenicosus, und ich fand, sie sei wie gemacht für diesen noch keineswegs gelösten Problemfall. Arsen schien mir nach wie vor gut begründet, aber die weiteren Erscheinungen sprachen dringend für Quecksilber: Die bald zu Beginn unserer Therapie aufgetretene starke Konjunkitivitis, die Hyperaktivität, die chronischen Ohrenprobleme, das destruktive Verhalten und die Konzentrationsstörungen. Auch eine zwischenzeitlich aufgetretene Vorhautentzündung verwies auf Mercurius und schließlich finden sich unter der Rubrik Dellwarzen nicht nur Hinweise auf Arzneimittel der Sykose (was man bei Warzen in erster Linie erwarten darf), sondern darüber hinaus auch auf Quecksilber bzw. dessen Salze.
Mercurius rechne ich ebenso wie Arsen zu den Hauptsäulen in der Behandlung der Syphilinie und so überraschte mich nicht einmal das Auftreten einer Röschenflechte, denn deren Bild erinnert mich immer an die Hauterscheinungen einer Lues II. Schließlich waren auch die nächtlichen Knochenschmerzen Ausdruck dieses Miasmas.
Der Junge fand seinen Frieden mit Mercurius arsenicosus: Seine Wahrnehmung und seine mentalen Fähigkeiten renkten sich wieder ein, die Aggression verlor sich, ebenso die Balanitis und die Wachstumsschmerzen. Eine gewisse motorische Unruhe sowie ein provokantes Verhalten gegenüber seinen Eltern bestand noch eine Weile fort, doch insgesamt wurde er im Lauf der Zeit deutlich ruhiger und umgänglicher. Die Arznei, ziemlich unbekannt in unserer Materia medica, schien also gut gewählt.
Umso mehr überraschte mich im Oktober 2012 eine schmerzhafte Otitis externa der rechten Seite zeitgleich mit einer Zahnwurzeleiterung, einen der Milchzähne betreffend. Otitis externa, vor allem die schmerzhafte Variante, gibt häufig einen Hinweis auf Quecksilber, Zahnwurzeleiterungen ebenso, jedoch hatte er seine letzte Gabe Mercurius arsenicus C200 erst drei Wochen vor der aktuellen Konsultation erhalten; sie sollte also noch wirken. Nun war ich etwas verunsichert, traf aber die einzig mögliche Entscheidung, nämlich die Nosode zu geben, die den Hintergrund zu beiden Bestandteilen seiner Arzneimittelkombination darstellt, nämlich Syphilinum. Und das brachte alles in Ordnung: Die Nosode als Joker in der Hand des Homöopathen!
In der Ausgabe III/2012 der Homöopathie-Zeitschrift konnte ich über meine Arbeitsweise berichten, die sich in der Behandlung chronischer Krankheiten vornehmlich kombinierter Arzneien, also kompletter Salze bedient, sich aber auch auf ein reduziertes Miasmen-System stützt. Liest man die Literatur über die Miasmenlehre und über die Zugehörigkeit unserer Arzneien zu den einzelnen Miasmen, so findet man nicht nur die Erklärung, dass unsere Polychreste allesamt mehrmiasmatisch beschrieben werden, sondert stößt auch auf eine große Zahl von Substanzen, die den Miasmen jeweils zugeordnet werden – siehe auch die Arbeit von Roland Methner in der Homöopathie-Zeitschrift 2003, Sonderheft Miasmen.
Damit kann man aber praktisch das Miasmensystem kaum für seine Mittelwahl heranziehen, die Miasmatik wird zur reinen Theorie (was Wunder, dass gerade R. Methner sich mittlerweile deutlich davon distanziert hat). Ich persönlich handhabe die Sache anders: Den einzelnen Miasmen gestehe ich einen relativ weiten Zuständigkeitsbereich zu, zum Teil überlappend formuliert, etwa derart, dass die Tuberkulinie innerhalb gewisser Grenzen Ähnlichkeit mit der Syphilinie hat, wenngleich sie nicht das Ausmaß der Zerstörung erreicht wie Letztere. In der Anlage meines Miasmenpentagramms wird dies deutlich (s. Bild! Die senkrechten Pfeile verweisen auf die Zunahme der Schwere der Pathologie von oben nach unten). Die den Miasmen zuzuordnenden Arzneien sind aber stark reduziert und die Zuordnung ist eindeutig. So etwa schreibe ich der Psora nur den Schwefel zu, der Tuberkulinie nur die Arzneien, die dem Stützgewebe dienen (inklusive Silicea, dem Stützmaterial der Pflanze). Die Arzneien der Sykose sind außer dem Thuja fast nur die Natriumsalze, die Karzinogenie steht nur mit den Kalium-Salzen in Verbindung und der Syphilinie ordne ich vor allem Quecksilber, Arsen und Gold zu, allerdings auch die Halogene (siehe Tabelle! )
Darüber kann man streiten und es besteht gewiss großer Bedarf an Erklärungen hierzu, die ich allerdings gerne zu liefern bereit bin. Jedenfalls, und das erscheint mir hier am wichtigsten, kann ich damit ganz hervorragend arbeiten und fällt mir die Wahl einer passenden Nosode nicht schwer, wenn eine Behandlung ins Stocken gerät. So war oben beschriebene Geschichte ganz eindeutig von Syphilinie geprägt und die Wahl der Nosode also kein Kunststück.
Die folgende Geschichte lehrte mich einiges mehr im Umgang mit Nosoden: Isabell war zwei Jahre alt, als auch sie mit einer Neurodermitis in meine Behandlung kam, die erstmals im Alter von neun Monaten aufgetreten war, im Anschluss an einen grippalen Infekt. Betroffen waren Hals, Ellenbeugen, Handgelenke, Oberschenkel, Kniekehle und Knöchel; auffallend verschlimmerte sich das Hautbild nach Kontakt mit Eiweiß (bloßer Kontakt mit einem gekochten Eies genügte). Der Juckreiz war über lange Phasen sehr intensiv, vor allem nachts ausgeprägt, und nötigte zum Gebrauch eines speziellen Schlafanzuges, der das Kratzen mit Fingern oder Zehen verhindern sollte. Die weitere Anamnese gab nicht viel her, außer dass sie als warmblütig beschrieben wurde und gerne barfuss ginge. Lediglich ein Detail fiel noch auf, nämlich ein gutartiger Tumor der Wangenschleimhaut. Die Familienanamnese deckte eine Neurodermitis des Vaters auf, ferner bei ebendiesem eine totale Alopezie bereits in jungen Jahren. Eine vorbehandelnde Kollegin gab bereits Sulfur, was aber nur eine Verschlimmerung auslöste. Meine eigene Entscheidung fiel auf Natruim sulfuricum, gegeben zunächst vorsichtig als C30, sich stützend auf deutliche Sulfur-Modalitäten, jedoch unter Berücksichtigung der Sykose in Gestalt des Schleimhauttumors.
Das Ekzem besserte sich allerdings nur kurz, die Medikation überzeugte zunächst nicht. Da ich schließlich in der Alopezie des Vaters das Wirken der Syphilinie vermutete, versuchte ich mich nun weiter mit Schwefel-Kombinationen, die Antisyphilitika einschließen, also Mercurius sulfuricus, Arsenum sulfuratum flavum und Aurum sulfuratum, aber auch das führte nicht wirklich weiter. Ein Jahr nach Behandlungsbeginn wurde mir Isabell wieder wegen eines bereits zehn Tage bestehenden fieberhaften Infekts vorgestellt und ich fand Hinweise auf eine Lobärpneumonie links basal mit dem Auskultationsbefund einer klassischen Crepitatio. Unter der Rubrik Entzündung, Lunge, linkes Unterfeld findet sich Natrium sulfuricum. Nun sah ich Veranlassung, zu meiner ersten Entscheidung zurück zu kehren, und gab ihr erneut Natrium sulfuricum, diesmal in C200, mit der Bitte, mir am nächsten Tag über den Zustand des Kindes zu berichten. Aber erst zwei Wochen später meldete sich die Mutter wieder bei mir und berichtete, dass die Haut schöner sei, der Juckreiz weniger belaste und seit einigen Tagen kein nächtliches Erwachen mehr verursache. Der Infekt war so rasch abgeheilt, dass sie meine Sorge kaum registriert hatte.
Von nun an kam die Ausheilung der Neurodermitis voran, verlief aber nicht kontinuierlich, geriet vielmehr immer wieder ins Stocken. Daher fand ich auch immer wieder Gründe, auf Nosoden zurück zu greifen. Zunächst gab ich Medorrhinum, was teils voranführte, zeitweise aber auch seinen Effekt schuldig blieb. Natrium sulfuricum gilt als klassisches Mittel der Sykose, aber mir wurde nun klar, dass die Sulfurkomponente ja für die Psora steht. Sicher geben wir bei starkem Juckreiz gerne Psorinum, aber nun konnte ich diese Entscheidung auch mit meiner Theorie der Miasmen in Einklang bringen und mit dieser Nosode jedes Mal Fortschritte erreichen.
Heute, fünf Jahre nach Behandlungsbeginn, tritt die Neurodermitis dieses Mädchens nur mehr gelegentlich und nur in Rudimenten auf und lässt sich mühelos beherrschen. Fünf Jahre erscheinen aber eine lange Zeit für die Behandlung einer Neurodermitis, denn es gibt auch Fälle, da eine oder zwei Gaben der passenden Arznei die Erkrankung über lange Strecken zur Ruhe bringen. Wenn man aber bedenkt, dass dieses Mädchen nicht nur zur Pneumonie neigte, sondern auch gelegentlich Anflüge von spastischer Bronchitis erlebte sowie Harnwegsinfekte aufwies, die sich allerdings homöopathisch prompt bereinigen ließen, so ahnt man, dass bei ihr eine fundamentalere Krankheitsneigung vorliegt als nur eine problematische Haut. Und wenn man die Hering`sche Regel bedenkt, so wird klar, dass erst die innere Krankheitsdisposition zur Ruhe kommen muss, bevor die Haut ihren Frieden findet.
Nach einem Vortrag jüngst wurde ich gefragt, welchem Miasma ich die Pollinose zuordne; ich benannte als Miasma die Sykose in klassischer Weise und als Hauptmittel in 60 bis 70% meiner Fälle Natrium sulfuricum. Das allergische Geschehen sei eine kompensatorische, sykose-typische Überreaktion bei einer zu Grunde liegenden psorischen Abwehrschwäche, sagte ich. Und tatsächlich steht - aus meiner Sicht - das Natrium für die Sykose und der Sulfuranteil für die Psora, womit sich auch eine gute theoretische Begründung für Natrium sulfuricum ergibt. Aber nicht selten bedarf es der Unterstützung durch die zugehörigen Nosoden, und wie bei dem vorangegangenen Neurodermitisfall hilft auch hier Medorrhinum weiter und im Zweifelsfall auch Psorinum.
Hermann S. geboren 1949, kommt nur sporadisch in meine Behandlung; eine kontinuierliche homöopathische Kur war dadurch bisher nicht möglich. Ein bedeutendes Ereignis war 2009 eine Hüftkopf-Nekrose mit starken Schmerzen, möglicherweise nach einer Überlastung aufgetreten. Eine Dosis Aurum sulfuratum befreite ihn rasch von seinen Schmerzen, eine weitere Behandlung orthopädischerseits wurde nicht mehr nötig. 2011 suchte er einen Chirurgen auf, weil er unter einer stark nässenden Analerkrankung litt bei Verdacht auf Haemorrhoiden; der Homöopathie räumte er wohl zu diesem Thema keine Chance ein. Kurz nach der Haemorrhoiden-Operation kam er aber wieder zu mir mit einer bohnenkerngroßen Schwellung am After, welche die Chirurgen zunächst als Haemorrhoidenrezidiv bezeichneten, die in Wirklichkeit aber eine ausgeprägte Vorpostenfalte bei tiefer Analfissur war. Er hatte Schmerzen und berichtete über Blutungen. Akutmittel inklusive Acidum nitricum blieben erfolglos. Nun war er bereits mit einem Goldpräparat in der Vergangenheit behandelt worden, hatte in seinem Lebensstil einige Hinweise auf die Syhilinie und war es mir schon lange klar, dass die Erkrankungen von Anus und Rektum in erster Linie diesem Miasma zuzuschreiben sind. (Hätte ich das schon früher gewusst, wäre mir die Behandlung so manchen schweren Falls von chronischen Analfisteln oder periproktischen Abszessen sicher besser gelungen).
Folgerichtig war es nun, bei Fehlen einer aussagekräftigen Detailsymptomatik, an die Nosode zu denken: Syphilinum C200 befreite ihn innerhalb von zwei Tagen vollständig von dieser Analfissur.
Aus meiner bisherigen Erfahrung möchte ich den Schluss ziehen, dass im Verlauf einer konstitutionellen Behandlung früher oder später der Einsatz von Nosoden unverzichtbar ist, um unsere Patienten von ihrer chronisch-hereditären miasmatischen Belastung zu befreien.
Nosoden - Trumpfkarten in der Hand des Homöopathen!
Bamberg, im Juni 2013
Ernst Trebin
Veröffentlicht in der Homöopathie-Zeitschrift II/2013