Eine kleine Warnung vorweg: Dieser Aufsatz offenbart einige Ähnlichkeiten zu meinem letzten Werk in der Homöopathie III/2014. Die Thematik ist aber gegenwärtig in meiner Arbeit sehr präsent und die hier aufgezeigten Lösungswege sind so vielversprechend, dass ich sehr bedaure, nicht schon wesentlich früher die beschriebenen Behandlungsstrategien gefunden zu haben.
Helen war sieben Jahre alt, als sie 1999 wegen eines juckenden Ekzems erstmals in unsere Praxis kam. Eine Kollegin gab Sulfur C200 und damit war das Problem zunächst gut bereinigt. Sieben Jahre später sprach mich ihre Mutter daraufhin an, dass ein Hirntumor aufgetreten sei, ein Ependymom von niedrigem Malignitätsgrad. Zunächst hätte ein neurochirurgischer Eingriff stattgefunden, der allerdings gewisse Gleichgewichtsprobleme und eine Augenmuskellähmung mit Doppelbildern nach sich gezogen hätte. Und die letzte zurückliegende Kontrolle hätte ein erneutes Wachstum gezeigt, weshalb nun Bestrahlungen stattfinden würden. Helen war zu diesem Zeitpunkt 15 Jahre alt; die Mutter bat nun um Mitbehandlung.
Der Tumor konnte durch die Bestrahlung zwar verkleinert, aber nicht gänzlich beseitigt werden; man verständigte sich zunächst lediglich auf regelmäßige Kontrolluntersuchungen. Die nun von mir erhobene Anamnese ließ ein eher ängstliches Kind erkennen, dem eine deutliche Krebsangst zu schaffen machte, und dies wohl nicht erst seit der eigenen Tumorerkrankung. In allen neuen Unternehmungen oder auch in körperlichen Wagnissen wittere sie Gefahr. Sie sei sehr gesellig, pflege einen liebevollen Umgang mit ihren Freunden, erhalte viele nette Briefe und versorge ihre Klassenkameraden gerne mit Geschenken. Die Mutter erzog das Mädchen in dessen ersten Lebensjahren alleine; Helen war aber stets problemlos zu betreuen, wenn die Mutter arbeitete.
Sie pflege sich gut, achte auf modische und harmonische Kleidung. Von Wachstumsschmerzen war die Rede und von sehr häufigen Mittelohrentzündungen, auch gäbe es Phasen von Haarausfall. Die Familienanamnese zeigte eine genetische Belastung mit neurologischen Erkrankungen, so wäre der Opa mütterlicherseits an ALS erkrankt, ein Onkel mütterlicherseits sei geistig behindert, unter Halbgeschwistern aus einer späteren Familiengründung der Mutter sei ein Kind von nächtlichen Epilepsien betroffen. Die meisten der Symptome, die Helen aufwies, sprachen für Phosphor: ihre Ängste, ihre Geselligkeit, ihr Mitgefühl und nicht zuletzt der Hirntumor. Eine chronische Neigung zu Mittelohrentzündungen lässt mich gerne an Mercurius solubilis denken; die sichersten Erfolge ergaben mir aber erst die salzartigen Verbindungen des Quecksilbers, weshalb ich für Helen gute Gründe sah, Mercurius phosphoricus zu verabreichen. Schließlich ist Quecksilber ein Hauptmittel des syphilitischen Miasmas, und die Häufung neurologischer Erkrankungen in der Familie ließen dessen Vorherrschaft vermuten. Intermittierend gab ich folgerichtig gelegentlich Syphilinum, aber dem lokalen Befund, also konkret ausgedrückt: dem Hirntumor gewidmet, verordnete ich auch Conium in C200, später auch in C50.000. Diese Arznei ist nicht nur ein häufig gebrauchtes Tumormittel, sondern seine Indikation leitete sich auch ab aus den Schwindelerscheinungen, die die Erkrankung von Helen begleiteten.
Die Behandlung in dieser Form ging über drei Jahre, wobei immer wieder sorgfältig die Entwicklung des Mädchens hinterfragt wurde und auch mancherlei andere Arznei angedacht und auch versuchsweise eingesetzt wurde. Im Großen und Ganzen blieb es jedoch bei dieser Linie und der Tumor wurde zusehends kleiner.
Als Helen 18 Jahre alt war, änderte sich das Bild. Es traten wieder massive Hauterscheinungen auf, zunächst als juckende Bläschen, zwischen den Fingern und auch generalisiert, wobei Bettwärme den Leidensdruck verschlimmerte. Gleichzeitig wandelte sich das Verhalten von Helen; aus dem früher so lieblichen und rücksichtsvollen Mädchen brach eine Rebellion hervor und es kam zu vehementen Auseinandersetzungen mit der Mutter. Ich versuchte nun ein paar Wochen lang wieder Anschluss an die zuvor erfolgreiche Therapie zu finden, konnte aber erst mit Kalium sulfuricum die Hauterscheinungen gut und nachhaltig beruhigen. Diese Arznei wurde nun im Wechsel mit Psorinum und Carcinosin gegeben.
Das Ekzem heilte aus, der Hirntumor verkleinerte sich weiterhin und das Verhalten harmonisierte sich allmählich wieder. Vorübergehend traten Gelenksschmerzen auf, schließlich auch Scheiden- und Blasenentzündungen, die sie ärgerten, nachdem sie doch nun einen Freund gefunden hatte. Schlafstörungen sowie mancherlei Ängste und Unsicherheiten meldeten sich ebenso wie Perioden von Herzrasen, aber all dies kam Schritt für Schritt zur Ruhe unter der neu gefundenen Behandlungsstrategie. In einigen meiner Aufsätze, meist in der Homöopathie aktuell veröffentlicht, habe ich mich in den letzten Jahren mit dem karzinogenen Miasma beschäftigt und auch meine These vorgetragen, dass Kali-Salze die angemessenen Mineralien wären zur Beschwichtigung dieses Miasma. Seit einiger Zeit, und auch darüber habe ich auch schon geschrieben, zuletzt in der Ausgabe III/2014, beobachte ich intensiv, dass viele meiner Patienten nicht nur etwa ein Natriumsalz oder ein Quecksilbersalz o.ä. benötigen, womit ein sykotisches oder syphilitisches Miasma beruhigt wird, sondern dass quasi parallel dazu das karzinogene Miasma seine Spuren hinterlassen hat und dass eine definitive Lösung und Ausheilung nur dann erreicht wird, wenn eine zweigleisige Behandlung stattfindet, entweder indem die eine Linie nach einer gewissen Zeit der Behandlung die andere Linie ablöst, oder indem sogar beide Behandlungsstrategien ineinander verschränkt für ein Weiterkommen nötig sind.
Ich war mir lange im Unklaren darüber, woraus sich das karzinogene Miasma bei Helen begründet; es hatte sich ja schon in den hohen Krebsängsten gezeigt, aber auch in ihrem ausgeprägten Sinn für Ästhetik, schließlich in der großen Fürsorglichkeit und Unterordnungsbereitschaft, die sie als kleines Kind an den Tag legte. Erst als ihre Mutter mir ihren schwer geistig behinderten Bruder zur Behandlung vorstellte, begann ich die Familiengeschichte zu verstehen. Dieser Mann, Helens Onkel, war von Geburt an entwicklungsgestört, er wurde von seiner Mutter nicht besonders geliebt. Aus diesem Grunde übernahm Helens Mutter, seine Schwester also, die Fürsorge, die sie bis heute wahrnimmt. Meine Interpretation geht dahin, dass Helens Mutter eine für einen jungen Menschen ungewöhnlich große Belastung übernehmen und frühzeitig hohe Verantwortlichkeit erlernen musste, und dass dieses Verhalten der Einprägung des karzinogenen Miasmas Vorschub leistete. Pflicht nämlich ist das passendste Schlagwort zur Beschreibung sowohl des karzinogenen Miasmas als auch der Kali-Salze.
Wie hat sich das aber auf Helen übertragen? Kann es sein, dass sie als Kind die Wesenszüge ihrer Mutter einfach übernahm? Oder hat sich Mutters Verhalten im Erbgut niedergeschlagen? Aktuelle Forschungen zeigen, dass Prägungen dieser Art, von unangemessenen Belastungen bis hin zu schweren traumatisierenden Erlebnissen, Spuren im Erbgut tatsächlich hinterlassen und sich den nachfolgenden Generationen einpflanzen können.
Ich neige mittlerweile zu der Annahme, dass Malignome, welcher Qualität auch immer, vor diesem Hintergrund gesehen werden müssen und möglicherweise stets für einen gewissen Teil des Behandlungsweges der Nosode Carcinosin und der Gabe von Kalium-Salzen bedürfen. Hier liegt aber noch ein erheblicher Forschungsbedarf für uns Homöopathen vor. Helens vormalige Gefügigkeit passt in dieses Bild, aber auch ihre spätpubertäre Rebellion, die mir geradezu ein selbst inszenierter Akt der Befreiung zu sein schien. Sie richtete sich vor allem gegen ihre Mutter, die mir weiterhin in ihrer beherrschten, fürsorglichen, aber auch kontrollierenden Art noch von diesem karzinogenen Miasma gezeichnet zu sein scheint.
Eine kleine Randbemerkung: Es war immer die Rede von Sehstörungen, die der neurochirurgische Eingriff bei Helen hinterlassen hätte. Aus diesem Grunde, so wurde mir erklärt, zeige Helen eine leicht gebeugte Kopfhaltung, dies würde ihr das Doppelsehen abschwächen. Ich hatte einmal Gelegenheit, das Mädchen unbemerkt studieren zu können, und mir erschien, dass diese Kopfhaltung, die der Gebärde eines angriffslustigen Widders entsprach, eine geradezu kämpferische Attitüde hatte. Auch dieses würde ja zum karzinogenen Miasma passen.
Helen ist heute, nach 7 Jahren konsequenter homöopathischer Therapie, sehr stabil, um den Resttumor kümmert sich man fast gar nicht mehr.
An dieser Stelle möchte ich mich bei der Deutschen Gesellschaft zur Förderung naturgesetzlichen Heilens herzlich bedanken, dass man mir ermöglicht hat, in der Homöopathie aktuell meine Erfahrungen in Form kleiner Aufsätze fortlaufend widergeben zu können. ich bedauere, dass dieses Blatt nun sein Erscheinen einstellen muss, wünsche aber allen Freunden der klassischen Homöopathie viel Erfolg bei ihrer weiteren Arbeit.
Bamberg, im Oktober 2014
Veröffentlicht in der Homöopathie aktuell 4/2014