Auf dem Jahreskongress 2024 des deutschen Vereins homöopathischer Ärzte habe ich kritisiert, dass die gegenwärtige Handhabung der Methode immer noch nicht Hahnemanns spätere Empfehlungen zur Behandlung chronischer Krankheiten angenommen hat, dass sie sich immer noch im Stadium der Behandlung akuter Krankheiten befindet. Ein Kollege, dem ich von meinem Buchprojekt berichtete, empfahl mir aber, die genuine Homöopathie darin nicht außer Acht zu lassen, welche für Arzneimittelwahl eine sorgfältige Beachtung der aktuellen Symptome verlangt – was jedoch im Gegensatz steht zur Entscheidungsfindung etwa durch miasmatische Überlegungen, wie es sich für chronische Krankheitsfälle empfiehlt.
Der Unterschied ist, dass sich auch bei mir die Mittelfindung bei akuten Zuständen sehr wohl an einer sorgfältigen Erfassung der momentan vorherrschenden Symptomatik orientiert, man aber, wenn es um chronische Beschwerdebilder handelt, einen wesentlich weiteren Überblick über die konstitutionellen Eigenheiten und die Krankheitsdisposition des Patienten gewinnen muss. Dazu bedarf es, wie Hahnemann schon erkannt hat, einer ausführlicheren Anamnese, welche die ganze Biografie einschließlich der ererbten Altlasten erfasst. Auch braucht es andere Arzneien, die auch auf einem anderen Weg zu finden sind als alleine über das Symptom. Aber dass für eine gute Behandlungsstrategie auch noch das Wissen der Miasmenlehre ein nützliches Fundament darstellen kann, das wird sogar von einigen Kollegen völlig in Abrede gestellt.
Hierzu ein Zitat von JC Burnett aus seinem Werk Die Heilbarkeit von Tumoren durch Arzneimittel:
Wenn die Homöopathie einmal ihre Säuglingswindeln ablegt, dann werden die subjektiven Symptome für die höhere Homöopathie das sein, was das Buchstabieren für das Lesen ist.
So betreibt man heute noch oftmals eine chronische Akuttherapie – der Begriff der genuinen Homöopathie steht dafür – anstelle einer souveränen Konstitutionsbehandlung. Es gibt einige Ratgeber zum homöopathischen Umgang etwa mit dem saisonalen Heuschnupfen. Präparate wie Galphimia, Luffa und viele andere stehen im Vordergrund, aber man verkennt, dass die Pollinose-Beschwerden Ausdruck einer konstitutionellen Anfälligkeit sind und daher viel besser mit einem Konstitutionsmittel zu kurieren sind, etwa mit Natrium sulfuricum, dass nach meiner Beobachtung bei mindestens der Hälfte der Betroffenen heilsam ist, ggfs. unterstützt durch die Nosoden Medorrhinum und Psorinum.
Es bedarf einer gewissen Erfahrung zu unterscheiden, ob der Zustand eines Patienten nur eine momentane, singuläre Krise ist oder aber das Aufbrechen einer grundlegenden Krankheitsbereitschaft darstellt. Die erstgenannte Situation bedarf eines Akutmittels, meist pflanzlicher oder tierischer Herkunft, im syphilitischen Bereich auch einzelner Metalle –manchmal sind es auch Minerale oder auch Salze, die es dafür braucht –, die letztgenannte Einordnung verlangt aber nach einer Arznei, die seine Gesamtverfassung im Blick hat, und wie Hahnemann schon erkannt hat, am besten aus mineralischer Quelle.
Wenn ich die von mir favorisierten Salze für wertvoll halte, so gilt dies vor allem für die konstitutionelle Behandlung, die unverzichtbar ist, wenn man ein chronisches Leiden beheben will. Ergänzende Arzneien, sind aber ebenso wichtig. Schüßler, der zunächst meinte, seine 12 Salze würden für alle Behandlungen ausreichen, hat diese seine Auffassung später auch revidiert.
Den Begriff des Zustands finde ich gegenwärtig auch bei anderen Homöopathen, etwa in einer E-Mail von Veronika Fischer, auch Hahnemann meinte damit wohl das Auftauchen einer einzelstehenden Symptomatik, was er als einseitige Krankheit bezeichnete.
Aber nicht nur akute Infekte oder Schmerzzustände brauchen häufig das, was ich gerne als Zustandsmittel bezeichne, auch etwa in der Behandlung von Krebs oder auch von Psychosen ist es unumgänglich, nicht nur die Konstitution des Patienten im Blick zu haben, sondern auch eine Tumor-spezifische Arznei zur Anwendung zu bringen, wie Uwe Friedrich vor kurzem schon forderte; oder ein Mittel, das die akute psychische Auslenkung des Patienten erfasst. Beides muss also zusammenwirken, wenn wir Erfolg haben wollen.
Aufgefordert also, die Arzneimittelfindung über die klassische Symptomenverwertung nicht zu vernachlässigen, skizziere ich im Folgenden einige Fälle, welche diese andere Ebene beleuchten, also bestimmte Zustände beschreiben:
Eine Patientin, bei der ich eine Akupunkturbehandlung vornahm, berichtet mir nebenbei, dass sie häufig nachts erwache mit Panik und Sterbensangst, und dies, seit ein Nachbar zu ihr an den Zaun getreten war und sie fragte, ob sie schon von dem Motorrad-Unfall ihres Sohnes wisse. Der Sohn hatte keinen großen Schaden genommen, aber bei ihr hat sich der Schock festgesetzt. Eine Gabe Aconitum C200 befreite sie davon.
Er hatte eine Motorradunfall, im Stehen kippte seine schwere BMW zur Seite und brach ihm das Schienbein. Die Fraktur wurde osteosythetisch versorgt, aber es stellte sich eine Entzündung ein, welche die ganze Tibia erfasste. Die sofort eingeleitete Antibiotika-Therapie verbesserte seinen Zustand kaum, 10 Tage nach dem Behandlungsbeginn war das Schienbein noch in ganzer Länge blau-rot verfärbt. Die Rubrik im Murphy bones, inflammation after fracture of tibia enthielt als einziges Mittel Anthracinum, die Nosode des Milzbrandes, sogar im 3. Grad. Damit kam die Entzündung zur Ruhe.
Mein Cousin stürzte schwer vom Pferd und brach sich sämtliche Schädelknochen. Sein Gehirnödem sei so schwer, so berichtete man mir aus dem Krankenhaus, dass es keine Möglichkeit gäbe, ihm zu helfen; in 2 oder 3 Tagen würde er sterben. Ich fuhr umgehend zu der Klinik, klopfte schüchtern bei der Intensivstation an und fragte, ob ich ihn mitbehandeln dürfe. Ich ließ dort für 3 Tage Arnica C30 und für den 4. Tag Arnica C200. Er überlebte. Nach 2 oder 3 Wochen im Koma ging er in die Rehabilitation und nahm dann seine Arbeit als Apotheker wieder auf. Er behielt nur kleine Restschäden. Nach einem Dreivierteljahr feierte er mit dem Krankenhaus-Team seine Wiederauferstehung. Wenige Wochen nach meinem Eingreifen rief das Krankenhaus bei mir an, wie man dieses Arnica denn dosiere, man hätte nun einen ähnlichen Fall.
Vor etwa 20 Jahren suchte die Patientin meine ärztliche Begleitung, nachdem man bei ihr einen bösartigen, per Biopsie bestätigten Brustknoten gefunden hatte; er maß 22 mm im Durchmesser. Sie suchte deshalb meinen Rat, weil sie erwartete, dass ich sie nicht zur üblichen Krebstherapie drängen würde. Ein Freund hatte für sie ausgependelt, dass sie diese Erkrankung auch ohne Operation etc. überstehen würde. Ich stimmte ein unter der Voraussetzung regelmäßiger Kontrollen. Ihr subjektives Schmerzempfinden, nämlich eine Schmerzausstrahlung von der Brust in den Arm, sprach für Asterias rubens, den Seestern. Damit bekamen wir tatsächlich den Tumor unter Kontrolle, er verkleinerte sich zusehends, sodass sie sich nach kurzer Zeit der Behandlung wieder verabschiedete mit den Worten, sie käme nun alleine zurecht. Eine dringend erforderliche konstitutionelle Unterstützung habe ich zwar mit Kalium phosphoricum eingeleitet, konnte sie aber nicht konsequent fortsetzen. Zu erwähnen ist noch, dass die Krebserkrankung auftrat, nachdem sie Sorgen um ihren Partner hatte wegen dessen Alkoholismus. Später hörte ich, dass es ihr sehr gut ginge, zuletzt aber kam die Nachricht, sie habe nun Metastasen. Es gehört einfach untrennbar zusammen, sowohl den aktuellen Zustand, in diesem Fall den Tumor, als auch die Grundstruktur zu behandeln.
Auf diesem Jahreskongress stellte ein renommierter Kollege den Fall eines Jungen dar, der mit 8 Monaten begann, täglich bis zu 50 Krampfanfälle zu produzieren. Weil er kurz zuvor geimpft worden war, lag nach meiner Beurteilung eine Impfenzephalitis vor. Belladonna C200 beendete, so erzählte der Kollege, diese Anfallsbereitschaft schlagartig. Eine meiner Enkelinnen reagierte auch einmal hochgradig pathologisch auf eine Impfung, sie wurde sehr unruhig und begann ihre Mutter zu beißen. Beißen bei Kindern: Belladonna! Mit dieser Arznei und einer ganzen Reihe weiterer homöopathischer Arzneien konnte ich diesen Spuk binnen einer Woche auflösen. So wie der Kollege das Kind im weiteren Verlauf beschrieb, schien mir eine Silicea-Konstitution vorzuliegen, was sich als Fortsetzung der Behandlung angeboten hätte, denn zu dessen Arzneimittelbild gehört typischerweise die Krampfneigung nach Impfungen.
Die Patientin L.J. betreue ich seit 36 Jahren, sie wird dieses Jahr 98 Jahre alt. Im abgelaufenen Frühjahr trudelte sie von einer Krise in die andere, weshalb wir mit ihrem baldigen Ende rechneten. Viele kleine Arzneien und zwischendurch eine konstitutionelle Therapie ließen sie überleben; sie wirkt wieder ziemlich frisch, wenngleich das Alter seine Spuren hinterlassen hat. Nun stürzte sie zu Boden, als sie ihr Bett verlassen wollte, und prellte sich kräftig den Hintern, speziell das Steißbein. Die Empörung über ihre Schmerzen war groß und Analgetika wollte sie nicht nehmen aus Angst vor Unverträglichkeiten. Das zunächst verabreichte Hypericum nützte nichts, aber ein Wort half mir bei der Entscheidung, die passende Arznei zu finden: Das Liegen auf der schmerzhaften Stelle bereite ihr Erleichterung. Fester Druck bessert: Bryonia! Damit war der Schmerz rasch vertrieben.
Ein „akutes Abdomen“: Die Dame, 62 Jahre alt, meldete ihren Besuch an wegen akuter Bauchschmerzen, erst an diesem Tage aufgetreten. Sie konnte keinen Anlass nennen und hatte auch noch keine Idee, was ihren Schmerzen zugrunde liegen könnte. Der ganze Bauch war zunächst unauffällig, doch als meine palpierende Hand sich dem rechten Unterbauch näherte, genauer dem McBurney-Punkt, reagierte sie mit Schmerz und heftiger Abwehr. Um andere Ursachen als eine akute Appendizitis auszuschließen, führte ich noch eine Ultraschalluntersuchung durch, fand aber keine weiteren Auffälligkeiten. Auf eine Bestimmung der Leukozyten verzichtete ich, da das Ergebnis an der Notwendigkeit einer stationären Einweisung und vermutlich umgehenden Appendektomie nichts ändern würde. Aber ich gab ihr noch eine Dosis Bryonia C200; die Empfindlichkeit des Peritoneums und auch der Loslassschmerz auf der linken Bauchseite gaben mir dafür den Grund. Überrascht war ich dann doch, als sie mit am folgenden Tag telefonisch berichtete, dass sie die Nacht zuhause verbracht hatte, weil der Chirurg nur einen gefüllten Darm vermutete. Er entließ sie aus der Ambulanz mit der Empfehlung, nur im Falle eine Verschlechterung wieder die Klinik aufzusuchen; und das, obwohl die Leukozyten mit 10.000 relativ erhöht waren. Ich war empört und meinte, wohl neue Leitlinien nicht mitbekommen zu haben, nach denen man eine Appendizitis sich selbst überlassen könne. Am Tag 3 sah ich sie wieder in meiner Praxis, kontrollierte die Zahl der Leukozyten, die nun auf 5.000 gesunken waren, und untersuchte erneut den Bauch: kein bisschen Schmerz mehr! Mir blieb nur die Vermutung, dass Bryonia innerhalb der kurzen Zeit, die die Patientin bis zur Vorstellung in der Klinik benötigte, die ganz offensichtliche Entzündung beruhigt haben muss. Das war ein schönes Ergebnis, ich muss aber einräumen: es funktioniert nicht immer. Aber nachdem diese Patientin schon über die Jahre konstitutionell durch die homöopathische Begleitung stabilisiert war, konnte wahrscheinlich die aktuelle Krise durch ein reines Akutmittel gut abgefangen werden.
Freitag Abend, ein Anruf von einer Familie, die bei einer Kollegin in Behandlung steht, welche aber nicht zu erreichen ist. Das Kind habe Ohrenschmerzen, und ich höre über das Telefon sein zorniges Geschrei. Geben Sie ihm bitte Chamomilla C30, riet ich den Eltern. Am nächsten Morgen sehe ich sie alle in der Stadt beim Einkaufsbummel. Dem Kind geht es gut, die Nacht war ruhig.
Conium hat mir schon bei vielen Tumorleiden geholfen, u.a. bei dem schon in Kapitel 6 (Ein Hirntumor…) geschilderten Fall; Schwindel oder Nachtschweiß sind gute Indikatoren dafür. Ich habe den Wasserschierling aber auch als eine große Arznei erlebt bei Schwäche etwa im Rahmen einer Corona-Infektion oder wenn die Füße nach der COVID-Impfung nicht mehr tragen wollten. Jüngst meldete eine Patientin, dass sie sich vor lauter Schwindel kaum mehr umdrehen könne im Bett geschweige denn aufstehen. Ich ließ ihr eine Dosis Conium C200 zukommen und binnen 15 Minuten ging es ihr wieder gut.
„Sehr geehrter Herr Trebin, durch Ihre freundliche Hilfe wurde die tagelange Blutung im Zeh des rechten Fußes schlagartig beendet. Recht herzlichen Dank dafür. Mit den besten Grüßen A.H“, stand in der Postkarte. Was war geschehen? Meine Helferin rief mich während unseres Urlaubs an, sie würde gerne ihrem Nachbarn helfen, der seit Tagen mit blutigen Handtüchern versuche, eine Schnittwunde am Fuß zu beruhigen. Ob sie ihm nicht eine Gabe Staphisagria besorgen könne? Die Geschichte ließ mich aber gleich an eine Behandlung mit Blutverdünnern denken, was sie bestätigte, und so riet ich besser zu Crotalus horridus. Eine Gabe in C200 ließ die Blutung binnen 5 Minuten zum Stillstand kommen. Der Herr stand unter der Einnahme von Xarelto®, einem Gerinnungshemmer; den Grund dafür konnte ich nicht herausfinden.
Hyoscyamus ist nicht nur eine Arznei für akute Psychosen, es hilft auch relativ zuverlässig bei einem nächtlichen Husten, der nur mit Codein zu beruhigen ist.
Eine Dosis Lachesis C200 bereinigte bei einer Patientin nachhaltig ihre klimakterischen Hitzewallungen.
Meine Tochter schickte mir aus ihrem Urlaub eine Nachricht, ich möge ihr bei ihrer Rückkehr eine Pilzsalbe bereithalten, sie hätte eine Entzündung an der kleinen Zehe. Diese erwies sich allerdings als eine bakterielle Infektion, die sich, wieder zuhause, rasch ausweitete, den halben Fuß erfasste und zu einer Sepsis führte, so schwer, dass ich sie ins Krankenhaus einweisen musste. Mit Antibiotika-Infusionen brachte man die Entzündung zur Ruhe. Nach ihrer Entlassung betrachtete ich mir den Fuß noch einmal genauer und fand zwei dunkle Punkte im Abstand von ca. 1 cm an der Innenseite der Kleinzehe. Nun war für mich der Verdacht naheliegend, dass sie beim Baden in einem kleinen See in der Rhön wohl unbemerkt von einer Schlange gebissen wurde. Und ich befragte sich noch nach ihren Schmerzmodalitäten. Sie sei sehr empfindlich auf Wärme gewesen, vor allem gegen Sonneneinstrahlung, und habe das Bedürfnis gehabt, ihren Fuß in Eiswasser zu tauchen. Ledum fand ich nun für indiziert und eine Dosis in C200 brachte die Entzündung noch vollends zur Ausheilung (wobei man natürlich bescheiden sein und den Haupteffekt dem Antibiotikum zugestehen muss).
Anders aber bei einem Künstler, der seine Werke aus schweren Stahlplatten zu gestalten pflegt. Er kam eigentlich wegen seiner Rückenschmerzen, zeigte mir aber bei dieser Gelegenheit seine rechte Hand, die erheblich geschwollen und völlig deformiert war. Ein Katzenbiss habe zu einer schweren Entzündung geführt, an der sich die Chirurgen mit Antibiotika und mehreren Einschnitten abgemüht hatten. Ich gab ihm für seinen Rücken Rhus toxicodendron C200 und für die kranke Hand Ledum C200, gelöst in 30%igem Alkohol zur täglichen Einnahme von 5 Tropfen. Als ich ihn zwei Monate später wieder sah, war seine Hand wunderbar verheilt.
Der Junge litt unter heftigen Halsschmerzen, es vergehen ein paar Tage vergeblichen Bemühens bis ich erkenne, dass ein Pfeiffersches Drüsenfieber vorliegt. Das ohnehin nutzlose, in diesem Fall sogar kontraindizierte Antibiotikum wird sofort abgesetzt und ein kleines Detail, nämlich die Schmerzausstrahlung zu den Ohren, lenkt meine Aufmerksamkeit zu Mercurius cyanatus, in dem ich nun ein geeignetes Mittel für diese schwere Tonsillitis sehe. Dieses Quecksilbersalz scheint mir deshalb die richtige Arznei und wird auch von mir mit Überzeugung nun ausgewählt, weil es die wichtigste Arznei bei Diphtherie ist. Und das Bild, das der Junge mit seinen ausgedehnten weißlichen Belägen bietet, ähnelt sehr einer Diphtherie. In wenigen Tagen war er wiederhergestellt.
An diesen Fall musste ich denken, als ich Ende April 2022 erneut wegen einer heftigen Tonsillenentzündung um Rat gefragt wurde. Der junge Mann berichtete mir per Telefon von einem seit 2 Wochen bestehenden heftigen Racheninfekt mit völlig vereiterten Mandeln und einer starken Behinderung beim Schlucken. Er nehme nun schon den 3. Tag Penicillin, von einem Arzt verordnet, aber er empfinde keine Besserung. Nun wohnt dieser mein Patient 40 km entfernt und befindet sich zu diesem Zeitpunkt auch noch in Quarantäne wegen positivem COVID-19-Test, also eine direkte Konsultation mit Untersuchung ist nicht möglich.
Ich vermute zunächst einfach eine Resistenz auf das Antibiotikum und rate zum Wechsel, nämlich zu Amoxicilin mit Clavulansäure, von dem man weit weniger Resistenzen kennt. Aber nach weiteren 3 Tagen erhalte ich die Nachricht von einem erneuten Versagen der Antibiose. Ich frage nach dem Lokalbefund und höre von einer weiterhin ausgedehnten Exsudation, schließlich auch noch von geschwollenen Halslymphknoten. Damit steht auch in diesem Falle für mich die Diagnose Infektiöse Mononukleose fest mit einer sogenannten Monozyten-Angina.
Die Rubrik einer Entzündung im Hals von rechts nach links fortschreitend verweist auf Lycopodium, die Rubrik kalte Getränke bessern würde auch passen. Dieselben Modalitäten hat aber auch Mercurius jodatus flavus, was schließlich das richtige Mittel war, gegeben in C200. Nach 3 Tagen sehe ich ihn selbst in meiner Praxis: minimale Exsudate sind noch zu sehen, die rechte Tonsille ist noch etwa geschwollen und gerötet, aber vor allem sind Schluckschmerzen und Fieber verschwunden. Er hält sich sogar schon wieder für arbeitsfähig.
Eine weitere Arznei aus dem Reigen der großen psychotropen Medikamente erwies sich als wirkungsvoll bei einer jungen Frau von 20 Jahren. Sie kam wegen Panikattacken in Behandlung, und zum Hintergrund war zu erfahren, dass sie seit Kindheit sehr betroffen war vom Alkoholismus ihres Vaters. Sie engagierte sich sehr für ihn, erlebte naturgemäß aber immer wieder Enttäuschungen und wandte sich schließlich von ihm ab. Eines nachts wurde ich zu ihr gerufen, nachdem sie erneut in eine Panikattacke verfallen war. Ich fand sie in einer Art Schreckstarre vor, kaum anzusprechen, und behalf mir zunächst mit einer Tablette Tavor, was sie schließlich auch in einen guten Schlaf brachte. Bei der Rückschau ergab sich folgendes Bild: Sie war an jenem Abend mit ihrer Familie zu einer Hochzeit eingeladen und traf dort auch einen Verwandten, den sie, geschult aus den Erfahrungen mit ihrem Vater, als Alkoholiker identifizierte, obwohl er abstinent lebte und auch an diesem Abend keinen Alkohol konsumierte. Aber allein die Konfrontation mit dieser Krankheit löste bei ihr tiefen Schrecken und Panik aus. Nun findet sich im Synthetischen Repertorium die Rubrik Furcht, nach einem Schreck, wenn die Furcht vor dem Schreck zurückbleibt, oder anders ausgedrückt in Der Neue Clark Nach dem Schreck bleibt die Furcht durch den Schreck bestehen (mit Verweis auf Constantin Hering) - eine umständliche Formulierung, die ich so interpretiere, dass allein die Erinnerung an ein schreckauslösendes Erlebnis erneut Panik verursachen kann. Und in dieser Rubrik und unter dieser Beschreibung findet sich Opium. Seit ich ihr Opium gab, bisher zweimal in C200, kam es zu keinem Rückfall mehr, auch nicht nach einer erneuten Begegnung mit ihrem Vater.
Ein 63 Jahre alter Architekt wies mich auf eine Lähmung seines rechten Beines hin und ich diagnostizierte eine Fußheberschwäche, also eine Läsion des Nervus peroneus, mit einer Umfangsverminderung der betroffenen Wade um 2 cm. Das ist ein Fall für Plumbum, sagte ich ihm, worauf er mir erzählte, dass er vor kurzem eine alte Bleifarbe von Fahnenmasten an der Berliner Kongresshalle, im Volksmund „Schwangere Auster“ genannt, zu entfernen hatte. Man wusste um die Gefährdung, weshalb die Berufsgenossenschaft schon strenge Auflagen für die Arbeit angeordnet hatte. Offenbar genügten aber schon Spuren des Bleistaubs, um bei ihm eine Plumbum-Pathologie anzuregen. Eine Dosis Plb. C200 sowie dasselbe Mittel in Tropfen, für eine 3 Wochen einzunehmen, behoben die Lähmung vollständig und in kurzer Zeit.
Eine Frau erwartete Zwillinge. Gegen Ende der Schwangerschaft wurde sie unruhig und hatte das Gefühl, ihre Leibesfrucht sei in Gefahr. Sie begab sich in die Klinik, wo man aber nichts Auffälliges feststellen konnte. Damit aber war sie nicht zufrieden und bestand auf genaueren Untersuchungen: und tatsächlich stellte sich heraus, dass einer der Föten unterversorgt war; der sofortige Kaiserschnitt rettete ihm das Leben. Später aber wurde dieser Junge damit auffällig, dass er nachts panisch erwachte und nicht mehr zu beruhigen war. Um Hilfe gebeten, bedachte ich dieses vorgeburtliche Trauma mit einer Dosis Stramonium C200, eine Arznei unter anderem für Menschen, die in vital bedrohliche Situationen geraten waren. Es half dem Jungen aus seiner Not.
Eine ältere Dame, genau gesagt, meine Mutter, damals 86 Jahre alt, beklagte einen nächtlichen Steißbeinschmerz. Alle möglichen Untersuchungen bis hin zur Darmspiegelung erbrachten keine Klarheit über die Ursache. Im Repertorium fand ich unter pain, sacrum, night (Murphy) unter anderem Staphisagria. Diese Arznei ließ mich aufhorchen, nachdem ich jede Rubrik Mittel für Mittel durchsuche und daraufhin überprüfe, was davon für den Fall zu gebrauchen sei. Und bei Staphisagria fiel mir ein, dass sie Wochen zuvor von ihrer Schwester schwer beleidigt worden war, was sie lebhaft beklagte. Eine Dosis in C200 bereitete dem Spuk rasch ein Ende.
In ihren letzten Lebensmonate litt sie unter einem Ulcus der Hornhaut des rechten Auges. Die Augenärzte konnten nichts dagegen tun. Aber auch ich fand keine Hilfe für sie. Nach ihrem Tod kam die Zeit, als ich Kalium bichromicum zu verstehen begann. Da wurde mir klar, dass das eine geeignete konstitutionelle Arznei für sie gewesen wäre. Es ist bitter, wenn man im Rückblick erkennt, womit man manchem Patienten hätte helfen können, wenn man diese Erkenntnisse schon früher gewonnen hätte.
Auch mehr im konstitutionell-miasmatischen Bereich spielte sich diese Begebenheit ab: der 84-jährige Patient hatte eine unruhige Nacht hinter sich; er musste andauernd zum Wasserlassen auf die Toilette. Was aber seine Frau sehr beunruhigte, war, dass er sich nicht verständlich artikulieren konnte, was denn mit ihm sei; er würde seine Sätze nicht zu Ende sprechen. Wegen seiner Schwäche machte ich einen Hausbesuch und fand in seinem Urin reichlich Blut, weshalb ich die Ursache für seinen Zustand in einem Harnwegsinfekt sah. Seine Sprachblockade ließ mich an Thuja denken, was ich ihm in C200 gab. Binnen 3 Tagen war der Urin rein und der Harndrang normalisiert.
Diese Auflistung spannender Fälle soll aufzeigen, wie wichtig das Verständnis für akute Krisen oder einseitige Zustände ist; aber warum es aber ebenso wichtig ist, zwischen diesen beiden Ebenen zu unterscheiden und bei chronisch-konstitutionellen Erkrankungen andere Wege zu gehen, belegt folgender Fall:
So hatte ich jüngst zu tun mit meinem Patienten H.N., 68, der mich wegen akuten, heftigen, fast ausschließlich nächtlichen Diarrhoen konsultierte. Von ihm wusste ich, dass er Anteile von Arsen in sich trägt. Er geriet nämlich vor vielen Jahren in eine fast psychotische Verfassung, die damals allerdings einer Frühsommer-Meningoenzephalitis zugeschrieben wurde. Er fiel dadurch auf, dass er nachts in einem Zustand von Verwirrtheit von einem Bett in’s andere wanderte: ein guter Hinweis auf Arsen.
Weitere Informationen zu seiner aktuellen Darmsymptomatik hatte ich allerdings nun nicht erheben können, auch Kummer oder Stress verneinte er. Die Entzündungswerte im Blut waren erhöht mit einer BKS von 20/50 mm/h und 10.000 Leukozyten/µl. Hier lag also wohl kein viraler oder bakterieller Infekt vor – die Ergebnisse der Stuhluntersuchung bestätigten dies –, sondern eine neu aufgetretene entzündliche Darmerkrankung im Sinne etwa eines Morbus Crohn; auch dies bestätigte die Stuhluntersuchung mit einem hochpositiven Calprotectin. Wohl nicht zufällig war auch schon sein Sohn von dieser Diagnose betroffen.
Arsenicum album C200, bei einer akuten Enteritis sicher die Nr.1, gegeben am 27.06.2019, half ihm nicht. Am Tag darauf: weiterhin stündlich Diarrhoe nachts. Eine Dosis Natrium arsenicosum C200, am 28.6.19 nachgelegt, brachte aber rasch Ruhe, und nach 14 Tagen waren alle Werte wieder in der Norm. In den vergangenen Monaten hatte ihm der Zahnarzt wegen einer umfangreichen Gebiss-Sanierung mehrmalige Antibiotika-Kuren verordnet (was bekanntlich die Sykose weckt, der ich gerne die Natrium-Salze zuordne). Und bei einer erneuten Befragung räumte er doch einen Ärger ein, über den er wohl – auch Natrium! – zunächst nicht sprechen wollte.
Bamberg, im Juli 2024, ergänzt im Februar 2025