Beim Stöbern in alten Schriftstücken fiel mir einer meiner Aufsätze in die Hände – unter diesem Titel, aber nie veröffentlicht –, der sich im Besonderen dem Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Syndrom (ADHS) widmete. Darin resümierte ich über meine damaligen Behandlungsergebnisse und schrieb 2011 zu diesem Thema folgende Zeilen:
Häufig werden wir in die Behandlung von Kindern einbezogen, die einerseits schlechte Schulleistungen aufweisen, andererseits leicht ablenkbar sind oder den Unterricht vehement stören. Gering war aber bisher meine Ausbeute an wirklich überzeugenden Erfolgen. Wollte man Begründungen dafür suchen, so könnte man anführen, dass zum Teil die Erwartungen der Eltern zu hoch waren, weil zu rasch Änderungen erhofft wurden; aber auch, weil es häufig darum ging, phlegmatische und lernfaule Knaben auf Vordermann zu bringen. Damit ist die Homöopathie vermutlich überfordert. Hinzu kommen noch andere externe Einflüsse wie z. B. die häufig erwähnte Reizüberflutung, auch der Leistungsdruck der Schulen, die sich von Bildungsinstituten zu Lernfabriken mutiert haben. Nicht selten war schließlich die innerfamiliäre Dynamik bereits dermaßen verfahren, hatten die Eltern sich schon über längere Zeit in die Rolle des Antreibers eingenistet oder nahm das Kind eine Sündenbockfunktion ein in einer unharmonischen Familie, kurzum, nicht wenige Situationen bedurften mehr als der Gabe von Globuli, nämlich einer fundamentalen Umstrukturierung der Familie und des Umfeldes.
Wenn dagegen der Karren noch nicht zu tief verfahren war, wenn das Fehlverhalten des Kindes noch relativ frisch war, das Umfeld stabil und vor allem, wenn brauchbare Indizien eine klare Arzneimittelwahl ermöglichten, so war es doch erstaunlich, wie schnell manchmal die passende Arznei eine klare Korrektur hervorrief, wiederholt und von nachhaltigem Erfolg. Anhand des Behandlungsverlaufes eines Knaben möchte ich schildern, welche Entwicklungen möglich sind.
Hier die Geschichte von Niklas, einem damals zehnjährigen Jungen, der die fünfte Klasse eines Gymnasiums besuchte: Er fiel durch Konzentrationsstörungen und Leistungsabfall in der Schule auf. Die Anamnese fand ohne ihn statt, da er es nicht erträgt, wenn über ihn gesprochen wird. Nicht nur seine Leistungsschwäche kam zur Sprache, sondern auch seine psychischen Auffälligkeiten. Die Mutter beschrieb ihn als rasch aufbrausend bei kleinen Störungen, als Choleriker, der schnell resigniert, ja sogar Lebensüberdruss äußert, wenn er in Konflikte gerät. Dass er in letzter Zeit viel fluchte und eine auffallende Fäkalsprache gebrauchte, mochte noch dem Einfluss von Freunden zuzuschreiben sein, vielleicht aber auch der Tatsache, dass er aufgrund seines geringen Selbstvertrauens und seines Bedürfnisses, angenommen zu werden, gern sich in den Mittelpunkt stellte und den Helden spielen wollte.
Seit jeher hatte er Ein- und Durchschlafstörungen, verweigerte auswärtiges Übernachten, weil ihn dann größere Ängste überkamen. Er mochte schon immer nicht alleine einschlafen, hatte stets gern ein kleines Licht nachts und kam auch oft in das Bett der Eltern. Zeitweise plagten ihn schlimme Träume, fühlte er sich auch nachts bedroht und erschrak im Halbdunkeln über die Möbel seines Zimmers, da er befürchtete, es könnten Personen sein.
In Gesellschaft fühlt er sich wohl, er kann große Runden unterhalten und begeistert gerne seine Familie mit kleinen bühnenreifen Aufführungen. An körperlichen, verwertbaren Symptomen bietet er eine Warze, Kopfschmerzen bei Sonne, Wachstumsschmerzen der Beine, gelegentlich Nasenbluten, starken Kopfschweiß nachts und Risse der Finger in der Nähe der Nägel.
Das waren im Wesentlichen seine Charakteristika. Er wurde in den vergangenen Jahren häufig mit der homöopathischen Arznei Phosphor behandelt, zu Deutsch der Lichtträger, eine Arznei für Menschen, die eine spürbar starke Ausstrahlung haben (und hierzu bemerkte die Mutter, er habe schon immer eine Faszination für Feuer gehabt). Phosphor bzw. seine Säure Acidum phosphoricum passen gut für Menschen, die rasch von geistiger Arbeit erschöpft sind, passen auch gut auf seine Ängste einerseits und andererseits seine Zornausbrüche; passen ebenso auf seine Flüche, eine Wesensart, die man gern Tuberculinum zuschreibt, der Nosode, die den Hintergrund zu Phosphor darstellt. Andererseits wies er auch Zeichen von Natrium muriaticum auf, unter anderem seine Vorbehalte dagegen, dass man über ihn Gespräche führe, aber auch die Empfindlichkeit gegen Sonne und die Neigung zu Kopfschmerzen hierdurch. Oder auch die Risse an den Nagelrändern.
Die Auswertung (Repertorisation) seiner Symptome zeigt dementsprechend ein häufiges Vorkommen von Phosphor ebenso wie von Natrium muriaticum. Nachdem ich bevorzugt seit vielen Jahren vor allem kombinierte Arzneien einsetze, wählte ich Natrium phosphoricum, zu dessen Keynotes es gehört: Bildet sich beim Erwachen nachts ein, Möbelstücke seien Personen. Die Arznei selbst tritt bei der Auswertung der Symptome von Niklas kaum in Erscheinung, würde also bei einer Computer-gesteuerten Repertorisation leicht übersehen werden. Allein durch die Kombination der beiden Grundelemente unseres Patienten, nämlich Phosphor und Natrium muriaticum, und unter Berücksichtigung der besagten, für dieses Mittel spezifischen psychischen Eigenart, konnte diese Arznei ausgewählt werden.
Fünf Wochen nach der ersten Gabe von Natrium phosphoricum C200 wurde von einer prompten Harmonisierung binnen zwei bis drei Tagen berichtet. Seine Arbeit sei strukturierter, er wirke glücklich und friedlich. Nicht nur die Eltern, sondern auch die Lehrer empfanden ihn wie umgewandelt. Allerdings ließ die Wirkung in der Folgezeit wieder nach und er gewöhnte sich erneut seine schlechten Ausdrücke an. So bekam er zwischendurch eine Dosis Tuberculinum C200, bevor die Arbeit wieder mit Natrium phosphoricum fortgesetzt wurde. Das Fluchen verlor sich wieder, die Warzen waren noch vorhanden (manchmal verschwinden diese prompt, manchmal weichen sie erst nach längerer Behandlungsdauer, nämlich erst dann, wenn wichtigere Elemente am Patienten sich stabilisiert haben).
Als sich schließlich, während eigentlich die letzte Gabe Natrium phosphoricum noch wirken hätte sollen, wieder etwas Konzentrationsprobleme und Zerstreutheit einstellten, erhielt er die andere Nosode, diejenige, die zu allen Natrium-Salzen passt und welche die genetische Basis für den sykotischen Anteil unseres Patienten bedient (welcher sich u.a. in Warzenbildung manifestiert), nämlich Medorrhinum C200. Einige Tage später hieß es, seine geistige Leistungsfähigkeit habe sich binnen Stunden gebessert.
Das war nun eine schöne und gut darstellbare Behandlung, deren prompte Erfolge so nicht selbstverständlich sind. Soweit ich mich erinnern kann, war keine weitere Behandlung mehr erforderlich, setzte er seinen Weg wohlgeordnet fort.
In der Homöopathie-Zeitschrift I/2024 habe ich schon einmal über kindliche Entwicklungsstörungen und Verhaltensauffälligkeiten geschrieben und darauf hingewiesen, welche Verantwortung wir tragen, aber auch welche Hilfe wir bieten können, um ein junges Leben in die rechte Bahn zu bringen. Nicht nur wegen Kleinkindern werden wir Homöopathen häufig um Rat gefragt, auch Schulkinder gehören in hohem Maß zu unserer Klientel. Neben den Lern- und Konzentrationsstörungen oder dem Hyperaktivitäts-Syndrom stellen uns auch die Schulangst oder gar die Schulverweigerung vor Aufgaben, schließlich auch Zwänge, Tics oder ein sozial unverträgliches Benehmen wie unangemessene Aggressivität oder unkontrollierte Impulse; auch autistische Störungen gilt es zu bereinigen.
Die Lösungen sind eher nicht einfach zu erzielen, denn es handelt sich bei all diesen Problemen nicht um akute Erkrankungen, die mit einer einzigen genialen Mittelgabe zu beschwichtigen wären. Streng psychotrope Arzneien wie Hyoscyamus, Stramonium, Tarantula oder Anacardium haben mir bislang kaum geholfen. Vielmehr liegen in der Regel fundierte konstitutionelle Probleme vor, sei es auf genetischer Basis, sei es infolge traumatisierender Erfahrungen, die zu analysieren ebenso schwierig sind, wie sie meist eines langen, mit Geduld gegangenen Behandlungsweges bedürfen. Schließlich gehören auch Impfschäden hierher, die nicht selten schwere bleibende Veränderungen im Gehirn hinterlassen.
Phosphorverbindungen stellen in unserem Organismus die Währung dar, mit der den Muskel- und Nervenzellen Energie bereitgestellt wird. Schwächelt dieses System, so mangelt es auch an Leistung, tritt rascher Erschöpfung ein. Das erklärt, warum viele Kinder nach der Schule „platt“ und für Hausaufgaben nicht mehr zu gewinnen sind. Das muss also nicht Faulheit bedeuten, sie können einfach nicht mehr, die Aufmerksamkeit ist aufgebraucht. Mit motorischer Unruhe stimulieren sie sich, aber Präparate wie Ritalin® oder Medikinet® nehmen ihnen diese Arbeit ab, weshalb sie damit ruhiger und konzentrierter werden – so meine Vermutung. Homöopathischer Phosphor bzw. dessen Salze helfen, diesen Haushalt zu stabilisieren, weshalb sie meine favorisierten Mittel dafür sind, Kindern aus dem Leistungstief herauszuhelfen.
Lukas, nun 12 Jahre alt, verweigerte gar vollends den Schulbesuch, er war schon ein Jahr lang zuhause geblieben, als ich seine Behandlung übernahm. Bei ihm war aber auch eine soziale Phobie mit im Spiel, denn er hatte schon den Kindergarten nicht besuchen wollen. Er zog sich lieber zurück und pflegte keine Freundschaften. Häufige Kopfschmerzen und Angst vor neuen Situationen waren die wenigen weiteren Informationen, die mir zur Verfügung standen.
Ich begann Ende April 2024 mit Natrium phosphoricum C200 und wiederholte die Gabe 5 Wochen später, Anfang Juni 2024. Beim nächsten Kontakt nach 4 Wochen erfuhr ich, dass er einen Freund gefunden habe und nun die Rückkehr in die Schule erwäge. Er erhielt jetzt Natrium phosphoricum in C50.000 Korsakoff. Und tatsächlich, nach den großen Ferien war er wieder ein Schulkind, was noch ein halbes Jahr zuvor unmöglich erschien. Oktober/ November 2024: Geht gerne in die Schule, zeigt gute Leistungen.
Am 19. Dezember 2024 trage ich ein: Schule läuft, etwas schwach im Lesen und Schreiben, vorerst letzte Gabe Nat-p. LMK. Natrium-Salze dürften die Favoriten bei Lese-Rechtschreibschwäche sein. Lernt spät Sprechen, lautet die Rubrik bei Horst Hauptmann (Homöopathie in der kinderärztlichen Praxis); sie enthält als das wichtigste Mittel Natrium muriaticum.
Als ich für dieses Thema zu schreiben begann, wollte ich eigentlich eine Vielfallt von Pathologien erwähnen und deren unterschiedliche Lösungen, musste aber dann feststellen, dass ein breites Feld meiner Anfragen wegen Schulschwierigkeiten tatsächlich von dieser Kombination aus Phosphorus bzw. Phosphoricum acidum und Natrium muriaticum bzw. Natrium carbonicum abgedeckt ist. Dies betrifft unter anderem eine ganze Familie von drei Kindern mit den genannten Problemen der Konzentrationsstörung, unzureichender Impulskontrolle und Hyperaktivität; es betrifft auch einen Jungen mit einem auffallenden Kontrollzwang, dessen Ursache wohl in der Phosphor-typischen Angst liegt
Hyperaktivität mag aber auch ein Mercurius-Phänomen sein. Hier liegt schon von Haus aus eine große motorische Unruhe vor „(quecksilbrig“); und vor allem fällt hier ein großer Mangel an Beharrlichkeit auf. Die Kinder sind sehr leicht abzulenken, springen von den Hausaufgaben auf, wenn draußen ein Vogel zwitschert. Und sie können ein größeres Aggressionspotential haben. So betreute ich einige Zeit einen Jungen, der nicht nur sehr unstet in seinen schulischen Leistungen war, sondern auch schwere soziale Verhaltensstörungen aufwies. Er hatte sogar eine Schulbegleitung zugewiesen bekommen, um ihn unter Kontrolle zu haben. Denn solche Dinge, wie auf dem Pausenhof einen Lehrer von hinten zu schubsen, machen sich nicht gut.
Das Mittel war übrigens Mercurius chloratus natronatus, mein bevorzugtes Quecksilber-Präparat in chronisch-konstitutionellen Fällen. Auch beim Vorliegen einer Rechenschwierigkeit, einer Dyskalkulie, ist man damit gut bedient.
Bamberg, im Januar 2025