Viele betagte Patienten habe ich nicht zu behandeln, ich betreue auch keine Altenheime. Ich habe mich immer mehr um die jungen Leute bemüht, denn wenn man deren gesundheitliche Entwicklung in die richtigen Bahnen lenken kann, dann festigt man ein ganzes Leben. Oft haben mich Patienten gefragt, ob ich nicht ihre Eltern aufnehmen könne. Mittlerweile lehne ich dieses Ansinnen kategorisch ab, denn ich widmete ihnen oft eine ganze, lange, mühsame Anamneseerhebung, dann kamen sie 3 bis 4mal, und weil dann das Wunder noch nicht eingetreten war, blieben sie meiner weiteren Therapie fern. Diese Generation ist sehr Schulmedizin-hörig und hat wenig Verständnis für die Homöopathie.
Das klingt natürlich nicht gerade nett, und so kommt es auch, obwohl meine Klientel mit mir älter geworden ist, dass nur wenige meiner Patienten älter sind als ich mit meinen nun 74 Jahren. Dennoch: eine Handvoll Senioren habe ich schon, und diese werden von mir auch nicht vernachlässigt.
Sie haben die typischen Erkrankungen des fortgeschrittenen Alters. Die Arthrosen kann ich mit meiner Strategie der hierfür besonders geeigneten Kalium-Salze bis zu einem gewissen Grad gut beherrschen, muss natürlich etwas zähneknirschend immer wieder erleben, dass sie sich künstliche Gelenke einsetzen lassen, was nicht immer problemlos einheilt. Auch die Herzinsuffizienz und die so häufigen Rhythmusstörungen lassen sich mit den Kali-Salzen gut beeinflussen. Gegen die Osteoporose haben wir mit den tuberkulinischen Mitteln wie den Calcium-, Silicea- oder Phosphorsalzen Hilfsmöglichkeiten, die sich vor den allopathischen Strategien nicht verstecken müssen, womit man aber nicht erst anfangen sollten, wenn der Abbau schon weit fortgeschritten ist. Der Blutdruck, der im Alter anzusteigen pflegt, kann auch teilweise korrigiert werden, wofür ich gerne die Natrium-Salze einsetze; sie haben nicht ohne Grund Bezug zu Niere. Dieses ganze metabolische Syndrom, also Hypertonus, Altersdiabetes, Cholesterin- und Harnsäureerhöhung können wir vielleicht nicht zahlenmäßig beherrschen, ich erwarte mir aber von einer guten Homöopathie, dass sie die sogenannten Spätfolgen, also Durchblutungsstörungen etc. vermeiden kann, denn diese treten meines Erachtens unabhängig von der Qualität der medikamentösen Einstellung auf – deren Wert mir ohnehin eher kosmetischer Natur zu sein scheint –, denn sie sind selbst Ausdruck der Sykose.
Netzhaut-Degeneration, Katarakt, Hörverlust, Demenz – hier tut man sich schwer, ist aber nicht völlig hilflos. Die beste Vorsorge für all diese Altersleiden ist, wenn man sich schon von jungen Jahren an um eine gute konstitutionelle Behandlung bemüht, dann sollte man im Idealfall alt werden können, ohne die Stützen der Schulmedizin bemühen zu müssen.
Als Frau J.L. in meine Behandlung trat, war sie noch ganz frisch mit ihren damals 61 Jahren. Sie machte sich immer lustig über mich Jungspund und meine Globuli, fühlte sich aber dazu hingezogen, beschwerte sie sich jedoch jedesmal über die dadurch ausgelösten vermeintlichen Nebenwirkungen. Tatsächlich reagiert sie sehr sensibel auf Medikamente jedweder Art. Sie äußerte sich verwundert, dass ich immer wieder während der Konsultation in Büchern blättere, hatte nicht begriffen – als pensionierte Lehrerin ohnehin alles besserwissend –, welche Bedeutung ein Repertorium für unsere Arbeit hat.
Wiederkehrende Schwächezustände waren ihre Klage, womit sich schon vor 37 Jahren abzeichnete, welche Arznei für sie zuletzt angezeigt und hilfreich sein würde.
Eine vollständige Anamnese konnte ich bei ihr nie erheben; sie war einfach hereingeplatzt in meine Praxis. Und so hangelte ich mich durch mit meiner Arzneimittelwahl anhand ihrer jeweiligen Symptomatik, deren Zeuge ich über die vielen Jahre wurde. Ich tröste mich in solchen Fällen mit Hahnemann, der auch nicht immer die Gelegenheit zu einer ausführlichen Fallaufnahme hatte, sondern alleine aus den aktuellen Gegebenheiten eine Behandlung beginnen musste.
Womit war ich denn in ihrem Falle beschäftigt? Neben den Schwächezuständen waren es eher akute Krankheitszustände wechselnder Art, wie etwa Atemwegsinfekte, Blasenschmerzen, Schwindelattacken oder Scheideninfektionen – alles Dinge, die wir stets in Ordnung bringen konnten und vor eine Chronifizierung bewahren. Schlafstörungen, Ohrgeräusche, Rückenschmerzen und sogar eine Rhizarthrose wurden immer wieder sediert. Sogar ihre Gonarthrose nahm nie stark belastende Maße an, ebensowenig wie ihre Unterschenkel-Varikosis und ihre leichte Psoriasis.
Immerhin blieb sie mir mit wechselhaften Mittelgaben sehr stabil, es waren in den letzten 20 Jahren die verschiedensten Salze gemäß meiner Arbeitsweise mit dieser Mittelgruppe – wobei ich mich aber schwer tat damit, ihre wirkliche konstitutionelle Linie herauszuarbeiten. Was blieb, war ihr mit dem Alter gebeugter Rücken, eine leichte Fingerpolyarthropathie und, über allem, eine fortschreitende Makuladegeneration. Trotz dieser Einschränkungen lebt sie aber immer noch alleine – nach dem Tod ihres Mannes – in ihrem großen Haus, hat aber ihre Helfer für den Haushalt.
Im Winter 2023/2024 aber bereitete sie mir mit ihren damals 97 Jahren große Sorgen. Ein Brechdurchfall im Januar schwächte sie sehr stark, Arsenicum C30 und Nux vomica C30 brachten Besserung. Dann herrschte wieder die Schwäche über sie, begleitet von einem schweren Schwindel: Conium C30 war angezeigt. Die Mattigkeit blieb, von einem starken Frischluftverlangen war die Rede, ein Indiz für Carbo vegetabilis. Die Hinfälligkeit ließ sie wieder stürzen: erneut Conium C30.
Dann hatte sie eine schwere Bronchitis, Grund für Kalium jodatum LMK. Wieder stürzte sie, die schmerzhafte Stelle beruhigte sich beim Liegen darauf; Bryonia C30 bekam einen Stern in der Akte. Im Juni 2024 war sie einigermaßen wieder hergestellt, aber zuvor bestand ein erheblicher Betreuungsbedarf. Ein Pflegedienst wurde engagiert, Essen auf Rädern bestellt, die Familie tagelang eingebunden, und ich musste oft einen Hausbesuch machen, der mich wegen der Entfernung viel Zeit kostete.
Wegen ihres Elends rechnete ich mit ihrem baldigen Ableben, legte mir schon die Todesbescheinigung zurecht. Aber was würde ich als Todesursache anführen? Sie hatte ja keine Grundkrankheit wie Krebs oder Herzinsuffizienz! War sie durch die homöopathische Betreuung von destruktiven Leiden bewahrt worden? Würde sie nur an Altersschwäche sterben?
Diese ganzen, gar nicht harmlosen Krisen brachte sie aber gut hinter sich, und man darf schon der Homöopathie einen guten Anteil an dieser Entwicklung zugestehen. Im Sommer 2024 verschärfte sich jedoch ein Problem, über das sie schon lange klagte; eine Uterus-Blutung, zunächst immer eher als Schmierblutung erlebt, nahm stark überhand. Ich hatte sie schon einmal den Gynäkologen vorgestellt, die einen malignen Endometrium-Polypen vermuteten, aber angesichts des Alters von einem Eingriff Abstand nahmen; nicht einmal eine Abrasio wollten sie machen.
Nun musste ich sie aber wirklich, trotz ihres vehementen Sträubens, in die Klinik schicken; ihr Hämoglobin war schon abgesackt auf 5,7 g/dl. Dort beließ man es aber bei der schon geäußerten Vermutung, unternahm aber nichts weiter, als ihr 2 Blutkonserven zu transfundieren. Dann schickte man sie wieder nach Hause, und es lag nun an mir, mit der Lage zurechtzukommen. Dem dringend empfohlenen Eisensaft widersetzte sie sich in der gewohnten Sturheit, nahm ihn nur widerstrebend an.
Es war an der Zeit, noch einmal die ganze Akte von vorne bis hinten durchzugehen, wonach ich mich für Kalium phosphoricum entschied. Nicht nur in der Blutung sah ich eine Indikation für ein Phosphor-Präparat, sondern auch in der schon weit fortgeschrittenen Netzhaut-Degeneration. Aber ganz entscheidend war für mich die Vorgeschichte mit den ständigen Schwächezuständen, wofür Kali-p. das am besten geeignete Mittel ist, weshalb es schon von Anfang an indiziert gewesen wäre.
Nach der ersten Gabe in C50.000K sistierte die Blutung, und schwächere Rezidive nach Ausklingen der Wirkung beruhigten sich erneut und prompt nach bisher zwei weiteren Gaben.
Kurz vor Weihnachten 2024 feierte sie in guter Frische ihren 98. Geburtstag. Heute habe ich mich nach ihrem Befinden erkundigt; sie hatte für 2 Tage eine kleine Erkältung, klang aber ungebrochen munter, von einer Blutung war keine Rede mehr.
Bamberg, im Januar 2025